Die Reisen des Paulus
klang ihr sehr vertraut. Anscheinend wurde sie Paulus durch das ständige Hinterdreinlaufen und Ausschreien dieser Worte so lästig, daß er nach einigen Tagen – wir wissen ja, seine Toleranz-schwelle war sehr niedrig – die Geduld verlor. ( Jeder, dem sich einmal im Osten ein Bettler so beharrlich an die Fer-sen geheftet hat, als wollte er sich nie wieder von ihm trennen, wird diese Reaktion verstehen.) Er drehte sich um und sagte zu ihr (und zu dem Geist:): »Ich gebiete dir in dem Namen Jesu Christi, daß du von ihr ausfahrest.« Wie bei Bar-Jesus auf Zypern, wie beim Lahmen von Lystra wirkten seine Worte blitzartig: »Und er fuhr aus zu derselben Stunde.« Ganz offensichtlich gibt es bei diesen drei Ereignissen einen Faktor, der konstant bleibt. Bar-Jesus, der Wahrsager, glaubte an Zauberei; der Lahme glaubte an Paulus; und die Sklavin glaubte vielleicht nicht an Paulus, aber sicher an magische Kräfte. Bei allen drei immateriellen Ereignissen ist der Glaube die gemeinsame Verbindung. Man begreift die 237
Betroffenheit der Herren des Mädchens recht gut. Aus ihrer wertvollen Kapitalhilfe war eine gewöhnliche Sklavin geworden, wie es sie zu Millionen gab. Wie jeder, der sich einer profitablen Einkommensquelle beraubt sieht, waren sie aufs höchste erbost. Anscheinend konnten sie nur Hand an Paulus und Silas legen. »(Sie) griffen … Paulus und Silas, zogen sie auf den Markt vor die Obersten und führten sie vor die Stadtrichter …« Die Prätoren saßen auf dem Forum und entschieden über die Rechtsangelegenheiten, die ihnen im Laufe des Tages vorgetragen wurden. Als aber plötzlich ein Haufen Volks daherkam und vor sich zwei Fremde her-stieß und trat, mußten sie den gewohnten Gang der Dinge unterbrechen und sich dieser Sache zuwenden, die offenbar recht dringlich war. Das Sklavenmädchen taucht übrigens nach der obigen Episode nicht mehr auf – und man kann gewiß nicht behaupten, Paulus hätte ihr mit der Aus-treibung des Wahrsagegeistes einen guten Dienst erwiesen. Jetzt war sie kein wichtiger und wohlgenährter Besitz mehr, sondern wahrscheinlich nur noch »Holzhauerin und Wasserträgerin«, Arbeitssklavin also. Paulus und Silas wurden verklagt. Sie seien Fremde, Eindringlinge, Juden, Unruhestifter, sie hätten versucht, die römischen Gesetze umzu-stoßen. Jetzt hätten die beiden Männer auf ihr römisches Bürgerrecht pochen und das ordentliche Gerichtsverfahren fordern müssen, das ihnen voll zustand. Aber die Macht des Pöbels überwog; falls Paulus und Silas überhaupt etwas sagen konnten, gingen ihre Stimmen im Geschrei ihrer Feinde und im Geheul jenes Packs unter, das allem hinterherläuft, solange es ein Spektakel ist, das die Langeweile des Lebens würzt. Vielleicht versuchten die beiden Männer, den 238
Mob zu überbrüllen und ihre römischen Bürgerrechte geltend zu machen, aber selbst wenn die Prätoren ihnen einen fairen Prozeß gegönnt hätten – wenn man den Frieden auf dem Marktplatz wahren wollte, war es das einfachste, sie an Ort und Stelle zu verurteilen und abzustrafen. Die Kleider wurden Paulus und Silas vom Leib gerissen, und die Liktoren gingen ans Werk. Liktoren waren jene Beamte, die den römischen Würdenträgern beigestellt wurden. Sie schritten ihnen voraus, trugen ein Rutenbündel mit einer Axt (für die Todesstrafe) und führten den Urteilsspruch des Gerichts aus.
Ausgepeitscht oder mit Ruten geschlagen werden ist eine qualvolle Erfahrung, die sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingräbt. Richard Wurmbrand, der über sein Leben in kom-munistischen Gefängnissen schrieb (New York 1968), sagt:
»Die Schläge brannten wie Feuer … Es war, als würde der Rücken auf einem glühendheißen Rost gebraten, gleichzeitig kam es zu einem schweren Schock für das Nervensystem.«
Im grausamen 1. Jahrhundert war die Pein der Körperstra-fen gewiß ebenso schlimm, wie es ein anonymer Matrose beschreibt, der Anfang des 19. Jahrhunderts bei der britischen Marine diente: »Man schlägt mit der neunschwänzigen Katze auf den entblößten Rücken … (der) bald aussieht wie verfaulte Leber. Jeder Peitschenhieb reißt die dünnen Krusten von geronnenem Blut wieder auf …« All das muß-
ten Paulus und Silas erleiden, nirgendwo steht verzeichnet, ob sie schrien. Für Paulus war es gewiß eine Buße für seine Schuld an der Ermordung des Stephanus, und beide taten es ihrem Heiland nach und erduldeten Schmerzen für ihren Glauben. Die Standhaftigkeit des Menschen grenzt
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