Die Reisen des Paulus
haben mögen, sie blieben römische Gefangene, und wenn er sie aus dem Gewahrsam entließ, war sein Leben verwirkt. Die Apostelgeschichte berichtet: »Und da es Tag ward, sandten die Stadtrichter die Amtsdiener und sprachen: Laß die Menschen gehen!« Sie hatten wohl erfahren, daß Paulus und Silas römische Bürger waren. Anders ist es kaum zu erklären. Vielleicht hat-245
te sie Lydia von Thyatira davon unterrichtet – sie dürfte es gewußt haben, außerdem gehörte sie zu den bedeutende-ren Bürgern von Philippi. Aber vielleicht stammte die Information auch von dem ungenannten Kerkermeister. Die beiden Männer haben ihm sicher mitgeteilt, daß sie römische Bürger waren. Er muß entsetzt gewesen sein. Sie waren ohne Gerichtsverhandlung geschlagen worden, und er hatte sie obendrein noch ins innerste Gefängnis gebracht und ihre Füße in den Stock gelegt. Es ist kaum anzunehmen, daß dieser Mann aus einem niederen Berufsstand römischer Bürger war. Möglicherweise stammte er aus Mazedonien. Und was half ’s, wenn er sagte, er sei in der Region Philippi geboren? Aber römischer Bürger! Sie gehörten zu der erlauchten Minderheit, die bei der Regierung des Reiches ein Wört-chen mitzureden hatten …
Die Liktoren kamen zum Gefängnis und sagten dem
Kerkermeister, die beiden Juden sollten freigelassen werden.
Er überbrachte den Gefangenen die Nachricht. »Die Stadtrichter haben hergesandt, daß ihr frei sein sollt. Nun ziehet aus und gehet hin mit Frieden!« Welch eine Nacht hatte er hinter sich! Erdbeben, Bekehrung, die Entdeckung, daß die beiden Männer gesellschaftlich weit höher standen als er, und jetzt die frohe Nachricht, daß die Oberen ihren Fehler eingesehen hatten und sie auf freien Fuß setzen ließen.
Aber wenn er dachte, damit sei die ganze Wirrnis beendet, hatte er sich geirrt. Der ältere von den Männern, Paulus aus Tarsus, wollte keineswegs gehen. Er würde das Gefängnis erst dann verlassen, sagte er, wenn die Oberen sich bei ihnen entschuldigt hätten. Paulus und Silas wurden den Liktoren vorgeführt – fast mit Sicherheit denselben, die sie am Tag 246
zuvor geschlagen hatten –, und die Liktoren wiederholten den Befehl der Prätoren. Sie könnten gehen, müßten jedoch die Stadt verlassen. Aber trotz seiner Verletzungen, trotz des überstandenen Erdbebens und einer bewegten Nacht, in der er neue Gläubige für die Kirche von Mazedonien gewonnen hatte, war Paulus nicht willens, sich auf einen so be-quemen Kompromiß einzulassen. Zweifellos zeigten er und Silas jetzt den Liktoren die Dokumente, die sie als römische Bürger auswiesen. Und dann sagte er: »Sie haben uns ohne Recht und Urteil öffentlich geschlagen, die wir doch römische Bürger sind, und in das Gefängnis geworfen, und sollten uns nun heimlich fortschicken? Nicht also; sondern lasset sie selbst kommen und uns hinausführen!« Es gibt wenige Ereignisse, die auf so charakteristische Weise das Feuer und die Leidenschaft dieses Mannes beleuchten, der, wäre er nicht einer der größten religiösen Lehrer der Welt gewesen, gewiß einen ausgezeichneten Staatsmann abgegeben hätte. Die Prätoren der Provinzstadt Philippi saßen wie auf Kohlen – und Paulus wußte das. Was für ein peinlicher Irrtum! Sie hatten zwei römische Bürger öffentlich schlagen lassen! (Das untersagten mindestens drei Gesetze. Eine Körperstrafe durfte öffentlich nur dann vollzogen werden, wenn man den Rechtsweg einhielt – also korrekte Gerichtsverhandlung, formelle Überführung –, und dann konn-
ten die Angeklagten immer noch in die Berufung gehen.) Die Liktoren begaben sich zum Forum zurück. Silas meinte vielleicht zu Paulus, es sei besser, Philippi schweigend zu verlassen und keine weiteren Umstände zu machen. Doch Paulus blieb unerbittlich. Sein Blut war in Wallung geraten
– er drang darauf, daß die Mitglieder der Kirche Gottes Ge-247
setze einhielten, und ebenso drang er darauf, daß die Richter Roms Gesetze einhielten. Was war Philippi denn? Eine Garnisonstadt in der Provinz – und er hatte das volle Bürgerrecht und kam aus Tarsus, einem Ort, den man schon kannte und schätzte, als Philippi noch gar nichts darstellte. Paulus besaß das jüdische Temperament; jenes Temperament, das die Juden bis zum Ende der Belagerung von Jerusalem {70 n. Chr.) aushalten ließ; jenes Temperament, das drei Jahre später die Zeloten von Masada dazu veranlaßte, lieber Selbstmord zu begehen, als ihre Festung dem Feind zu übergeben.
Sein
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