Die Reisen des Paulus
hatten sie sich nicht in die Freiheit geflüchtet, als ihre Tür so zauberisch aufsprang? Er führte sie in den Haupttrakt des Gefängnisses. Mittlerweile hatten seine Sklaven wohl Öllämpchen entzündet und Fackeln neben dem Haupteingang festgesteckt. Die anderen Gefangenen wurden wieder fest verwahrt. Aufgeregtes Stimmengewirr, alles redete über das große Glück, daß das steinerne Dach nicht eingestürzt war und sie zerschmettert hatte.
Die ungewöhnliche Ruhe dieser beiden Männer schien
zu beweisen, daß sie nichts mit anderen Menschen gemein hatten. Der Kerkermeister erfuhr, kurz bevor der Gott vor-beizog und die Mauern bebten, seien sie in Gesang und Gebet vertieft gewesen. Er zitterte noch vor Angst und fragte: »Liebe Herren, was soll ich tun, daß ich gerettet werde?« Daß er zwei zerschundene und zerschlagene Män-
ner in blutbefleckten Gewändern so anredete, zeigt uns die Kraft und Persönlichkeit von Paulus und Silas. Ihre Antwort lautete: »Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!« Jetzt verstand er gar nichts mehr. Er hatte schon von vielen Göttern reden hören, aber von diesem noch nie. In den frühen Morgenstunden sammelten sich er, seine Familie und die zum Hause gehörenden Sklaven um Paulus und Silas, die ihnen das Wichtigste über Leben und Auferstehung des Heilands erzählten und ihnen die Verhei-
ßung predigten, die für alle Menschen galt. Immer noch von 243
Angst vor dem Unbekannten geschüttelt, immer noch verwirrt, lauschten der Kerkermeister und sein Haus der Botschaft vom Menschensohn, der gleichzeitig der eine und einzige Gott war. Es gab keine anderen Götter neben ihm. Als wolle er sich nachträglich entschuldigen, führte er Paulus und Silas zum Gefängnishof, wusch ihnen den zerfleischten Rücken und behandelte ihre Wunden. Sie hatten ihm gesagt, er müsse sich taufen lassen – offenbar ein Reinigungs-bad, wenn er’s recht verstanden hatte, das ihn vom Makel seines alten, falschen Glaubens befreien und ihn zu einem neuen Leben erwecken würde. Mit dieser Vorstellung dürfte der Kerkermeister nicht ganz unvertraut gewesen sein, denn den symbolischen Tod und die Läuterung durch Wasser gab es auch bei anderen östlichen Religionen, vor allem beim Isiskult. (Apuleius beschreibt, wie ein Adept der Isis sich einer Heiligungszeremonie unterzieht. Danach wird für sein Seelenheil gebetet.) Er und seine Familie ließen sich taufen, wahrscheinlich gleich am Brunnen. Zu dieser Stunde werden sie kaum zum Fluß gegangen sein, zumal in Philippi noch der Schock des Erdbebens nachwirkte und Paulus und Silas nach wie vor Gefangene waren. Hier erwies sich wieder ihr Sinn fürs Praktische. Paulus und Silas wurden ins Haus des Neubekehrten eingeladen und bewirtet, wahrscheinlich mit Oliven, Brot, Ziegenkäse und Wein. Als man sie nach dem Blitzurteil ins Gefängnis geworfen hatte, waren sie wohl noch zu schwach, um die magere Gefangenen-kost zu sich zu nehmen. Ihre Wunden waren jetzt versorgt (dem Stand des damals nicht allzu großen medizinischen Wissens entsprechend), sie hatten gegessen und Wein ge-trunken – den Paulus später dem nicht allzu robusten Ti-244
motheus empfahl, »um deines Magens willen« –, und damit schwebten die beiden Apostel nicht mehr in Lebensgefahr.
Ihre Leidenschaft und ihre Überzeugungen machten sie so stark, daß sie unter Bedingungen durchhielten, die bei anderen einen Zusammenbruch und mehrwöchiges Kranken-
lager zur Folge gehabt hätten. Es ist beachtlich, wie zäh die Menschen damals waren. Sie waren, wenn auch unabsichtlich, Produkte einer weitaus spezifischeren Selektion. Heute kann man Kranke und Mißgebildete am Leben erhalten und ihnen somit auch die Fortpflanzung ermöglichen. Im 1. Jahrhundert überstanden nur die Kräftigsten die Kindheit und erreichten die Pubertät. Noch weniger erlebten das Erwachsenenalter. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß die Gefühlshaltung und das technische Geschick, die in der westlichen Welt darauf verwandt werden, Kranke am Leben zu erhalten, zu einem Gutteil von dem Glauben herrühren, den Paulus verkündigte. Wäre er nicht ungeheuer robust gewesen, von Wind und Wetter gegerbt, abgehärtet gegen alle Widrigkeiten und Unbequemlichkeiten, so hätte seine Botschaft Europa kaum erreicht.
Wahrscheinlich führte der Kerkermeister seine Schütz-linge, wenn auch widerwillig, ins Gefängnis zurück und legte sie wieder in den Stock. Was immer sie gesagt haben, wie stark sie ihn überzeugt
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