Die Reisen Des Paulus
da hatte die christliche Kirche schon gesiegt.
Man kann jedoch kaum daran zweifeln, daß die Marienverehrung nichts weiter war als eine Ausweitung des Kults der Großen Göttin über den ganzen Mittelmeerraum – jener Göttin, die als Mutter aller Dinge schon seit der Steinzeit angebetet wurde. »Die Diana der Epheser« – das war die griechische Artemis, die jungfräuliche Göttin der Jagd, doch vereinigte sie in sich auch die Eigenschaften der ägyptischen Isis. Dazu sagt Dr. R. E. Witt in Isis in the Graeco-Roman World: »Im gesamten Roman des Xenophon von Ephesus wird stillschweigend vorausgesetzt, daß Artemis und Isis vertauschbare Rollen spielen. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. schreibt Makrobius über die Gestalt der Isis, ihr ganzer Körper sei mit Brüsten bedeckt … Und so ergab 298
sich insgesamt das Bild der Großen Göttin Artemis/Isis, die als Fruchtbarkeitsgöttin Geburt und Wachstum verkörperte.«
Paulus mußte erfahren, daß er mit seiner Lehre von
Christus, dem Messias der Juden und Erlöser der gan-
zen Menschheit, auch in Ephesus auf beträchtlichen Widerstand stieß. Die Göttin, der Ephesus vor allem seinen Reichtum und seine Bedeutung verdankte – es war gewissermaßen das Lourdes der Antike – hatte sich tief in die Gedanken und Gefühle der Menschen eingesenkt. Sie gehör-te zu den frühen Manifestationen der Religion und leitete sich von den Muttergottheiten ab, die man überall im Mittelmeerraum findet, handle es sich um Kleinasien, um die Kykladen oder um Sizilien. Isis/Artemis war die Verkörpe-rung des weiblichen Prinzips, was nicht nur Fruchtbarkeit bedeutete, sondern auch Wiederauferstehung in Form von Wiedergeburt sowie die ewige Wiederkehr des Lebens auf Erden. Wie uns frühe Felszeichnungen zeigen (zum Beispiel Tarxien auf Malta), stellte sie außerdem den »Baum des Lebens« dar. Als Isis hatte sie einen göttlichen Sohn, Horus; als Artemis war sie die Mutter des Wilden, die Göttin der Tiere. Das Isis/Artemis-Konzept umgriff nahezu alles. Und es bot Raum für viele Abstufungen: von der Vorstellung des schlichten Bauern, die Göttin werde stets für die Fruchtbarkeit seiner Tiere und seines Ackers sorgen, bis zum intellektuellen Gebilde der allerschaffenden Mutter, die das ganze Universum erhielt. Ihr Tempel, eines der sieben Welt-wunder, war in der Ebene nördlich vom Berg Pion in der Nähe eines kleinen Hügels gelegen. Er maß über 130 Meter in der Länge und über 73 Meter in der Breite. Ionische 299
Säulen trugen das Dach, jede 20 Meter hoch und von verschiedenen Herrschern der Göttin zu Ehren errichtet. Davor hatten an derselben Stelle, angefangen mit einem kleinen, archaischen Heiligtum, mindestens drei oder vier ältere Tempel gestanden. Das Bauwerk, das Paulus nun sah, benö-
tigte zu seiner Vollendung mehr als hundert Jahre. Die Kosten trug zu einem Großteil der berühmte Krösus, der letzte König von Lydien, dessen Reichtum und Macht damals wie heute sprichwörtlich waren. Der Überlieferung nach soll Krösus eines Tages den großen athenischen Gesetzgeber Solon gefragt haben, wer der glücklichste Mensch auf Erden sei – zweifellos in der Erwartung, die Antwort werde lauten, das sei er, Krösus. Doch Solon erwiderte darauf, niemand sei vor seinem Tode glücklich zu preisen. Einige Jahre später verlor Krösus einen Krieg gegen den Perserkönig Kyros. Krösus sollte den Feuertod erleiden, und da erinnerte er sich an Solons Worte und rief dreimal laut Solons Namen.
Kyros fragte ihn, zu wem er da am Ende seines Lebens flehe.
Krösus erzählte ihm die Geschichte, Kyros erkannte, daß sie auch für ihn einen tieferen Sinn enthielt, und begnadig-te Krösus. Doch das war sechshundert Jahre her. Sechshundert Jahre früher als Paulus in die Stadt kam, die man das Licht von Asien nannte, sechshundert Jahre bevor er den wahrhaft berückenden Tempel sah, der das weibliche Prinzip feierte, die Fruchtbarkeit und ewige Wiederkunft alles Lebendigen. Seine wichtigste Lehre lautete, daß ein Mensch, der auch ein Gott war, auf die Welt gekommen sei und daß das Ende dieser Welt bevorstünde. An diesem Ende würden alle gerichtet und die Guten von den Bösen geschieden werden. Die Auserwählten wurden des »Reichs Gottes« teil-300
haftig, welches ganz anders war als das von den römischen Kaisern regierte. Warum sollte man ans Ende der Welt glauben wollen? Die Menschen wünschten glücklich zu leben und möglichst viele Daseinsfreuden zu genießen. Die
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