Die Reisen Des Paulus
veranstaltet, wobei um die 3500 Tiere getötet wurden. Außerdem bot ich dem Volk das Schauspiel einer Seeschlacht nahe beim Tiber.«* Den Unterbau des römischen Reiches bildeten Trümmer und Knochen – die Trümmer der Reiche und Staaten, die Rom zerstört hatte, und die Knochen von Hunderttausenden, die getötet worden waren, weil sie für ihre Freiheit gefochten hatten. Doch selbst im
* Dafür ließ er eigens einen See anlegen. (A. d. Ü.) 47
Frieden hielt man es für nötig, die gräßlichsten und blutrün-stigsten Schauspiele darzubieten, um nicht nur die Massen, sondern jede Bevölkerungsschicht – einschließlich des Kaisers selbst – zu unterhalten. Augustus verdammte die Spiele nicht; im Gegenteil, er förderte sie. Sie waren das Symbol einer Welt voll unendlicher Grausamkeit. In dieser Welt gab es letzten Endes keine Hoffnung für den Menschen. Und all das wurde durch eine Lehre in Frage gestellt, die für Augustus und die Römer seiner Zeit praktisch unvorstellbar war – daß nämlich jedes Individuum einzigartig ist, in den Augen des Schöpfers seinen eigenen Wert besitzt und eine Seele hat. Es dauerte noch Jahrhunderte, bis die schreckli-chen Spiele im ganzen Imperium abgeschafft wurden. Doch bis dahin gab es in allen großen Städten des römischen Reiches gutbesuchte Arenen. Hinter soviel Gleichgültigkeit dem menschlichen Leben gegenüber stand eigentlich die Tatsache, daß diese ganze Welt als Grundlage die Sklaverei hatte. Dazu bemerkt Michael Grant in seinem Werk The World of Rome: »Obwohl die Sklaverei in der antiken Welt allgemein verbreitet war, kann man sich, von den Assyrern vielleicht abgesehen, kaum ein altes Volk denken, das die rö-
mischen Sklavenhalter übertroffen hätte. Die meisten waren von fühlloser Brutalität …« Aus diesem Menschenreservoir wurde das Reich gespeist. »Widerwärtig, brutal und kurz«
war das Leben der meisten Sklaven. Die einzige Ausnahme bildeten wohl jene begabten und gebildeten Griechen, die als Privatsekretäre, Schreibgehilfen oder Hauslehrer arbeiteten. Doch für die Sklaven, die auf dem Land Frondienste leisteten oder, schlimmer noch, sich in den Minen abracker-ten, aus denen Rom so viel von seinem Reichtum gewann, 48
dürfte die Lebenserwartung nicht einmal fünfundzwanzig Jahre betragen haben. Im ganzen Imperium, das, seltsam genug, so viele christliche Historiker mit Bewunderung erfüllt hat, waren alle nur möglichen Arten von Brutalität und Per-versität verbreitet. Und den Mächten dieser harten, unendlich grausamen Welt sollte dereinst der jüdische Knabe ent-gegentreten, der jetzt in Tarsus aufwuchs.
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5
A S J
Der Junge war intelligent, die Familie strenggläubig.
Paulus machte so gute Fortschritte beim Studium, daß man annehmen konnte, er sei zu Höherem berufen als zum Zeltmacher. Vielleicht hatte er sich schon das ehrgeizige Ziel gesteckt, Rabbi zu werden; jedenfalls bewies er durch seine Gesetzeskenntnis, daß er es verdiente, bessere Unterweisung zu erhalten, als das in Tarsus möglich war. Möglicherweise dachte der Vater auch, es sei ohnehin besser, einen so klugen und empfindsamen Jungen von der verderbten Gesellschaft von Tarsus fernzuhalten.
Betrachtet man die spätere Lebensgeschichte, dann möch-te es scheinen, daß Paulus bereits jetzt ein ungewöhnliches Interesse für die nichtjüdischen Gemeinden zeigte, für die Menschen, die nach der festen Überzeugung seines Vaters nichts als die Hölle zu erwarten hatten. Paulus mußte also Tarsus verlassen. Und das Schönste, was ein liebender und fürsorg-licher Vater tun konnte, war, ihn nach Jerusalem zu schicken.
Dort, in der heiligen Stadt, würde sein Sohn das rechte Denken und Handeln lernen. Er hatte die besten jüdischen Lehrer der Welt um sich und zudem reichlich Gelegenheit, seinen Geist und seine Seele zu bilden. Wir wissen so gut wie nichts über Paulus’ Vater, nicht einmal seinen Namen, aber er war zweifellos ein guter Vater. Außer Paulus hatte er nur noch ein Kind, eine Tochter. Und so schickte er seinen einzigen Sohn um der höheren Bildung willen nach Jerusalem, was bedeutete, daß er vielleicht einmal große Bedeutung erlangen würde –
allerdings gab es jetzt auch niemand, der das Familiengeschäft 50
übernahm. Der Vater handelte in der Tat aufopferungsvoll, und deswegen sollte man seiner gedenken.
Paulus dürfte etwa fünfzehn Jahre alt gewesen sein, als er zum ersten Mal eine Seefahrt auf
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