Die Reisen Des Paulus
Jerusalem gärte; Unruhe überall, Unruhe, weil dieser Mensch angeblich von den Toten auferstanden und seinen vertrautesten Anhängern erschienen war. Wenn der Sanhedrin mit aller Entschiedenheit behauptete, diese Sekte von Abtrünnigen sei des Todes schuldig, dann gab es keinen Grund, weshalb der Römer, der die Verantwortung für Recht und Ordnung in der Provinz trug, ihnen widersprechen sollte. In den Grenzen der Vernunft alles tun, damit Ruhe und Frieden gewahrt werden – so etwa müssen die Römer gedacht haben, die zu ihrem Mißvergnügen die Geschicke des hitzigen Kleinstaats Judäa lenken mußten.
Und was widerfuhr Paulus in dieser Zeit des Terrors?
Das Verhalten der Menschen, die er verfolgte, erschütterte seinen eigenen Glauben bis ins Innerste. Sie taten es dem Stephanus nach. Sie wurden gegeißelt oder sie starben –
und sie vergaben ihren Feinden. Das Überraschendste an dem oben aufgeführten Zitat aus der Apostelgeschichte ist die Tatsache, daß Paulus von den Hohenpriestern beauf-tragt wurde, die Säuberungen auch jenseits der Landesgren-zen von Judäa vorzunehmen. Er sollte nach Damaskus reisen, um über die Synagogen in Erfahrung zu bringen, ob es dort Anhänger des neuen Glaubens gab. Wenn das der Fall war, sollte er sie gefangennehmen und nach Jerusalem es-kortieren. Nun gehörte Damaskus zu den wichtigsten Städ-108
ten der Levante – aber es lag in Syrien. Die Gerichtsbarkeit des Sanhedrin reichte nicht so weit. Trotzdem blieb die Tatsache bestehen, daß alle übers römische Reich verstreuten Synagogen Jerusalem als geistige Heimat betrachteten und den Sanhedrin als oberste Autorität in sämtlichen Fragen des Gesetzes anerkannten – infolgedessen gehorchte man einem Mann, der mit Befehlen von den Kirchenältesten kam.
Fraglich erscheint nur, ob Paulus wirklich imstande gewesen wäre, gefangene Christen über die Grenze und nach Jerusalem zu bringen. Wenn dem so war, dann kann kein Zweifel daran bestehen, daß Pilatus als Mitschuldiger an dieser Af-färe zu betrachten ist. Vielleicht war Paulus bevollmächtigt, die Christen vor ihren Heimatsynagogen zur Rechenschaft zu ziehen, sie geißeln oder aus der jüdischen Gemeinde verstoßen zu lassen. Das wäre eine rein lokale und religiöse Angelegenheit gewesen, die lediglich die jüdischen Einwohner von Damaskus betraf und dem römischen Statthalter von Syrien keine Unannehmlichkeiten bereitete. Sei dem, wie es wolle, Paulus machte sich mit einigen Gesinnungsgenossen auf den Weg, um dafür zu sorgen, daß die kleinen Christengemeinden außer Landes vernichtet wurden.
Die Gruppe ritt auf Eseln. Wahrscheinlich hatten sie ein Kamel dabei, das ihr Gepäck trug. Sie ließen die alten Stadtmauern hinter sich und kamen an dem Ort vorbei, wo Stephanus gesteinigt worden war. Sie mußten nach Norden.
Sie wußten bereits, daß viele von denen, die sie suchten, in andere Teile von Judäa und Samarien geflohen waren – und sie wußten, daß die Christen sich nicht ruhig verhielten, wie man gehofft hatte, sondern recht tätig waren, um ihre Mitmenschen zu ihrem aberwitzigen Glauben zu bekehren.
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Der Zorn, den Paulus gegen diese Gemeinschaft ab-
trünniger Juden hegte, kommt einem unvoreingenommenen Betrachter nicht mehr normal vor. Wenn es sich hier also um ein paranormales Phänomen handelt, kann man auch
die Vorgänge auf der Wüstenstraße nach Damaskus als paranormal ansehen. Es sind zahllose Theorien über das un-verhoffte und schwerverständliche Bekehrungserlebnis entwickelt worden. Plötzlich war ein jüdischer Ketzerverfolger davon überzeugt, alles, was er bis dahin geglaubt hatte, sei falsch. Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, daß Bekehrungserlebnisse tatsächlich etwas Paranormales sind.
Seele und Verstand erleben einen abrupten Umschwung, oder, um einen alltagssprachlichen Begriff zu gebrauchen,
»alle Sicherungen brennen durch«. Außerdem muß etwas geschehen, das diesen Prozeß in Gang setzt. Unter normalen Umständen kommt ein solcher Gefühlssturm nicht zustande. Aber Paulus hatte nicht unter normalen Umständen gelebt: er war ein Hexenjäger gewesen, ein Mann, der von einem furchtbaren Zwang getrieben wurde – vergleichbar vielleicht den Schergen Hitlerdeutschlands, die die jüdische Bevölkerung vergasten und verbrannten.
Dr. Hugh Schonfield hat die interessante Theorie aufgestellt, Paulus sei nicht nur ein extremer Pharisäer, sondern auch ein Mystiker gewesen, der so weit ging, daß er schließ-
lich
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