Die Reisen Des Paulus
Bezirke. Aus diesem Grund nannte man es manchmal Tetrapolis, »Vier Städte«. Wie die Alexandrier genossen auch die Antiochener keinen sonderlich guten Ruf in der antiken Welt. Wenn, so Edward Gib-bon, die Alexandrier »die Eitelkeit und Unbeständigkeit der Griechen mit dem Aberglauben der Ägypterin sich vereinig-ten«, dann kamen bei den Antiochenern jede Eitelkeit, jeder Aberglaube und jeder sexuelle Exzeß des Ostens zusammen. Außerdem waren sie wegen ihres schlagfertigen Witzes und ihrer satirischen Ader bekannt. Sie machten sich über nichts und niemand Illusionen und waren wie die Bewohner anderer großer Städte heutzutage – etwa London, Berlin oder New York – skeptisch und nicht auf den Mund gefallen. Doch weil sie hauptsächlich Orientalen waren und in milden Klimaten lebten, zeichnete sich ihr Charakter durch Unbeschwertheit aus. Sie waren berühmt-berüchtigt für Essen, Trinken und sexuelle Freizügigkeit. Vielleicht wählte Mark Anton, der ähnliche Neigungen hatte, deshalb gerade diese Stadt zum Winterhauptquartier.
Paulus, bereits mit dem liederlichen Tarsus vertraut, lernte jetzt eine der lasterhaftesten Städte der Welt kennen.
Selbst die Römer, nicht eben Puritaner, waren der Meinung, daß es die Antiochener ein wenig zu weit trieben, daß sie in der Tat, um den modernen Jargon zu gebrauchen, »über-permissiv« waren. Später warnte Paulus die Neubekehrten 164
immer wieder vor der Sünde der porneia – was nicht verwunderlich ist. Porneia heißt eigentlich Ehebruch, umfaß-
te im antiken Denken aber jede Form sexueller Ausschweifung und sexuell abweichenden Verhaltens. Dem waren die Konvertiten, ob Juden oder Nichtjuden – vor allem aber die Nichtjuden –, Tag für Tag, ihr ganzes Leben lang ausgesetzt.
Was die alten Römer, Cato etwa, behauptet hatten, daß nämlich der Osten Rom und die römischen Tugenden mit dem Schwert bedrohe, stimmte nicht mehr. Jetzt bedrohte er Rom mit Luxus, Lotterleben und Laster, mit ausgefallenen Kulten, orgiastischer Mentalität und schrankenloser sexueller Freiheit. Die Geschichte beweist, daß Cato der Ältere recht hatte und daß diejenigen, die für Freiheit und Nachgiebigkeit sich selbst gegenüber eintraten, sich irrten.
Paulus ist in der westlichen Welt oft als unfroh und lust-feindlich verlästert worden. Aber das war er in keinem höheren Maße als so mancher Römer der Republik, der Zeit vor den Kaisern. Und selbst im Weltreich der Cäsaren gab es Römer, die erkannten, daß der Einfluß des Orients auf das einstmals abgehärtete Bauernvolk Roms sich als fatal erweisen würde. Niedergang und Fall des Imperium Romanum
wurden nicht nur, wie man uns manchmal glauben machen will, durch wirtschaftliche Ursachen bedingt. Auch die Moral oder der Mangel an Moral spielte eine beträchtliche Rolle. Heutzutage behaupten viele, Männer wie Paulus hätten die Dinge einfach falsch gesehen oder seien nichts weiter als repressiv gewesen. Wirft man jedoch einen Blick auf manche »fortschrittliche« und »freie« Gesellschaften unserer Tage, so kann man gewisse Ähnlichkeiten mit dem Rom des 1. nachchristlichen Jahrhunderts feststellen. Sozietäten, die 165
einst für ihre Tapferkeit, Widerstandsfähigkeit und Lebensfülle bekannt waren, ebenso für ihre Moral, die auf der Institution Familie basierte, haben all diese Tugenden und die Moral verloren. Aber vielleicht gibt es auch gar keine kausa-le Beziehung zwischen diesen Dingen. Vielleicht (die Vergangenheit scheint das überzeugend nahezulegen) unterlie-gen die menschlichen Gesellschaften demselben Rhythmus wie die Natur – Blüte, Reife, Verfall. Während Paulus die antiochenische Gemeinde vergrößerte – er bekehrte Heiden, darunter auch den Griechen Titus –, erreichte die Kirche die Nachricht, daß eine Hungersnot drohe. Propheten, so heißt es in der Apostelgeschichte, kamen von Jerusalem nach Antiochien, um vor der Katastrophe zu warnen. Es bedurfte jedoch kaum prophetischer Gaben, um vorauszusehen, daß eine arge Getreideverknappung bevorstand. Die
»Propheten« werden auf ihrer Reise reichlich Gelegenheit gehabt haben, den Stand der Ernte reichlich beobachten und direkt von den Bauern zu erfahren, wie die Lage war.
Palästina jedenfalls litt bereits Not, und Kaiser Claudius leitete geeignete Maßnahmen ein, um sie zu lindern. Königin Helena von Abdine, jüdische Mutter eines heidnischen Kö-
nigs, schickte sogar Beamte nach Ägypten und Zypern, um Getreide und Feigen aufzukaufen, die
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