Die Reisen Des Paulus
die einer Kirche beitreten wollten, die ungeachtet ihres Gegensatzes zum orthodoxen Judentum auf der Achtung vor dem Gesetz aufgebaut war. Es lag nahe, daß er an Paulus dachte.
Antiochien ähnelte Tarsus in mancher Hinsicht; auch hier herrschte ein buntes Völker- und Religionsgemisch, auch hier sprach man überwiegend Griechisch. Und Paulus kannte diese Leute. Außerdem war er beredt und konnte zu allen möglichen Menschen Kontakte knüpfen – also fiel die Wahl auf ihn. Er hatte unter Heiden gelebt, sprach fließend Griechisch und war mit den Sitten und Riten der fremden Völker vertraut. Und doch ließ er sich in keiner Weise davon anstecken.
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Trotz seiner wunderbaren Bekehrung hatte er nie die Strenge des Pharisäers abgelegt, auch nie die Diskussionsgewandt-heit verloren, die er sich bei Gamaliel in Jerusalem angeeignet hatte. Barnabas fuhr mit dem Schiff nach Tarsus, suchte Paulus auf und erklärte ihm, worum es ging. Zweifellos klang das für einen Mann mit Paulus’ Temperament äußerst verlok-kend. Nach seiner Bekehrung, nach der anfänglichen flam-menden Begeisterung (die nie nachließ) hatte er eine Reihe von Jahren in einer Art Stagnation gearbeitet. Es war genau die richtige Aufgabe für ihn – eine Aufgabe, die ihn forderte. Antiochien, die drittgrößte Stadt des römischen Reiches, wurde an Einwohnerzahl, Wohlhabenheit und Pracht nur noch von Rom und Alexandria übertroffen. Tarsus war provinziell gegenüber diesem Zentrum der römischen Herrschaft im Osten. Julius Cäsar hatte 47 v. Chr. Antiochien, die goldene Stadt, besucht. Zehn Jahre später verbrachte sein Rä-
cher Mark Anton dort gemeinsam mit Kleopatra den Winter, bevor er zu seinem glücklosen Feldzug gegen die Parther aufbrach. Auch Augustus und Tiberius erwiesen der Stadt ihre kaiserliche Gunst, indem sie sie mit öffentlichen Gebäuden schmückten. Von den Tempeln abgesehen, konnte sich Antiochien all dessen rühmen, was eine römische Metropole auszeichnete: Theater, Gymnasien, Zirkus, öffentliche Bä-
der, Aquädukte und schattige Kolonnaden, unter denen man wandelte. Antiochien lag etwa dreißig Kilometer vom Meer entfernt am linken Ufer des Orontes inmitten einer saftiggrü-
nen, fruchtbaren Ebene. Im Süden erhob sich schützend der Berg Silpius, auf dessen Gipfel eine Zitadelle stand. Aus einer seiner Kalksteinzacken war ein monumentaler Kopf heraus-gehauen: Charon, der Fährmann der Toten.
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Paulus, Barnabas und ihre Reisegefährten fuhren den
Orontes flußaufwärts. Dabei dürften sie am heiligen Hain der Daphne vorbeigekommen sein. Er erinnerte an eine thes-salische Nymphe, die Apollo zwingen wollte, ihm zu Willen zu sein – ohne Erfolg, denn Daphne hatte die Mutter Erde darum angefleht, ihr zu helfen, und war sogleich in einen Lorbeerbaum verwandelt worden. Aus seinen Blättern machte Apollo sich eine Krone, und daraus leitet sich die Tradition des Lorbeerkranzes ab. Ob Paulus diese Mythe kannte oder nicht, ist nebensächlich; jedenfalls erfuhr er sicherlich jetzt – wenn er nicht schon zuvor davon gewußt hatte –, welchen Zwecken dieser berühmte Hain diente. Beherrscht von einer Kolossalstatue des Gottes, war Daphnes Hain ein heiliger Ort, zudem eine Freistatt für Schutzsuchende. Das hieß, daß beispielsweise Verbrecher, entsprungene Sklaven und Schuldner nicht ergriffen werden konnten, solange sie sich in diesem Waldgebiet aufhielten, das über fünfzehn Kilometer im Umkreis maß. Der bach- und quellenreiche Ort war Apoll und dem Gedächtnis der unberührten Daphne
geweiht, aber dank einer kuriosen Verkehrung ins Gegenteil war er zur Stätte geworden, wo man die Freuden des Sexus feierte. Männliche und weibliche Prostituierte aus dem ganzen Osten kamen in die Wälder geströmt. Den Zehnten von ihrem Einkommen gaben sie für die Erhaltung des Tempels und anderer Gebäude. Wenn man in Gegenwart eines Rö-
mers vom Daphne-Hain sprach, so wurde das mit einem lü-
sternen Blick, einem stillvergnügten Lächeln oder einem hä-
mischen Grinsen bedacht. Auf ähnliche Weise sind auch in späteren Jahrhunderten berühmte Zentren der Prostitution in Geschichte und Folklore eingegangen.
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Sie erreichten Antiochien. Schimmernd weiß lag es im Sonnenglanz, im Stadtplan Alexandrien verwandt – das antike Schachbrettsystem mit breiten Straßen, die sich im rechten Winkel schnitten. Die beiden – mit Kolonnaden versehenen – Hauptstraßen kreuzten sich in der Stadtmitte und teilten Antiochien in vier
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