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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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allgemeinen
Minimalisierung auszulassen, zu denen z. B. die Jagd auf speziell
gezüchtete gigantische Mäuse gehörte, die bis zu
fünfzig Gramm wogen, ebenso fällt es schwer, den Enthusiasmus
der Propagandisten eines neuen Klettersports zu teilen, wie es der
Baumismus wurde. Die Eroberung der Baumwipfel über den Kuppeln der
Städte lockte nur wenige Waghalsige, denn nicht nur jede
himmelhochragende Birke barg ein tödliches Risiko, sondern auch
jeder leichte Mairegen, der die Kletterer mit Tropfen von der
Größe eines Menschenkopfes von den Zweigen kehren konnte.
Und selbst wenn es gelingen würde, sämtliche Insekten der
Semenia auszurotten, was der Ehrgeiz der Generalstäbe war,
hätte das nichts an der Tatsache geändert, vor der die
meisten die Augen verschlossen – daß die Semeniden in ihrer
jetzigen Gestalt nicht fähig waren, auf einer freien Fläche
zu leben, weil jedes beliebige Lüftchen sie von den
Füßen riß, jeder kleine Regen sie ertränkte,
jedes Vögelchen sie ohne weiteres aufpicken konnte. Zugleich
stellten sich die seit undenklichen Zeiten bekannten drohenden
Erscheinungen der Überbevölkerung erneut ein: Überall
entstand wieder Gedränge, und Verzweiflung schlich sich in die
Herzen. Von einer Geburtenregelung konnte selbstverständlich nicht
einmal die Rede sein. Da man für die Rettung der Grundfreiheit so
viele und so schwere Opfer gebracht hatte, wäre jener Schritt ein
schändliches Eingeständnis der totalen Niederlage gewesen,
allein schon aus Prestigegründen galt jeder andere Ausweg als
besser. Entdeckt wurde er von Kotauriens Akademie der Künste und
Wissenschaften – in Gestalt eines Förderationsprojekts. Die
Presseagenturen der ganzen Semenia machten das durch die Akademie
erarbeitete Manifest publik. Das Projekt sah eine Umwandlung der
Erblichkeit derart vor, daß alle Kinder der folgenden Generation
sich zu einem gigantischen, harmonischen Ganzen vereinigen konnten, das
dem Urmenschen auf ideale Weise ähnelte – jenem an den
gegenwärtigen Kriterien gemessen riesigen Wesen, dessen
legendäre Höhe von fast zweihundert Zentimetern kaum
vorstellbar war. Wenn wir diesen Schritt tun, verlieren wir nicht viel,
verkündete das Manifest, eigentlich nichts – denn sind wir
nicht schon Gefangene der eigenen Städte geworden? Wir können
ja weder einem Lufthauch noch einer Fliege die Stirn bieten. Wir leben
hoffnungslos und ständig von der Natur abgeschnitten, die wir
durch den zarten Flor und das Gras künstlicher Gärten
ersetzen müssen, wobei wir von Grauen erfüllte Bewunderung
beim Anblick eines Maulwurfshügels empfinden – es liegt
nämlich nicht mehr im Bereich unserer Sinne, mit einem Blick die
sogenannten Berge zu erfassen, über die wir ausschließlich
in uralten Büchern, die wir von unseren Großvätern, den
Giganten, geerbt haben, lesen können. Das Förderativprojekt
ruft eine solche monumentale Gestalt wieder ins Leben, allerdings
entsteht aus der Vereinigung von acht Millionen Semeniden nicht ein
einfacher Urmensch, sondern ein historisch erstmaliges Geschöpf,
nämlich die Vereinigten Gewebestaaten auf zwei Beinen, ein wahrer
Poliphem, ein Staatsmobil, vor dem der ganze weite Raum des Planeten
sich auftun wird. Es wird sich in dessen Unermeßlichkeit nicht
einsam fühlen, weil es nicht allein in die Wildnis Einzug
hält, vielmehr als Multimilliardengesellschaft.
    Der von den Akademikern Kotauriens verbreitete
Gedanke entflammte alle Herzen und Hirne, daher wurde er auch in einer
gesamtsemenidischen Volksbefragung angenommen. Gleichwohl ist die
allgemeine Geschichte keine Idylle; es kam zu unerwarteten Reibereien
und dann zum nun schon letzten Weltkrieg, der deshalb ausbrach, weil
jede Kirche im künftigen Staatsmobil eine separate Institution und
Stimme haben wollte und folglich eine eigene Mundhöhle, gebildet
aus der Kongregation der Gläubigen und der
Geistlichkeitshierarchie. Das war jedoch unmöglich, bei so vielen
Mundhöhlen wäre ein mentalisierter Höhlenlöchler
entstanden. Die widerspenstige Geistlichkeit ging auf ein solches
Diktum hin zu umstürzlerischem Tun über. Es erschienen
Schmähschriften, die das vorgesehene Staatsmobil als
monströses Gefängnis auf Beinen, als Sklavoped und als
laufende Galeere bezeichneten, auf Gnade und Ungnade der Hirnelite
ausgeliefert, die sich buchstäblich vom Blut der Millionen
Bürger ernähren würde. Unterstellungen wurden
verbreitet, angeblich wären sämtliche Posten in den Zentren
des Lustempfindens

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