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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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trügerische Hoffnung hinstellten und
eine Geburtenreglung forderten. Doch keiner wollte davon auch nur
hören, sie hätte eine drastische Einschränkung der
Grundfreiheiten bedeutet. Lediglich mit der herrschenden geistigen
Verfassung läßt sich die Leichtigkeit erklären, mit der
die Parlamente den Gengenieurplan, das Schrumpfgesetz, beschlossen. Es
sah die Reduktion des Standardbürgers im Maßstab von eins zu
zehn vor. Natürlich betraf der Plan die künftige Generation
der Semeniden. Um die Freiheit der Prokreation zu bewahren, bestimmte
das Gesetz: Nur derjenige könne eine beliebige Zahl von Nachkommen
zeugen, der sich einer Umstellung seiner Gene unterzogen habe. Das war
schlau ausgedacht, denn es schloß eine Zwangsmikrogenisierung
aus; wer sich ihr nicht unterziehen wollte, starb kinderlos; daher
bestand die nächste Generation bereits aus lauter Mikroknirpsen,
und als deren Eltern starben, übernahm sie von ihnen schleunigst
die im gleichen Maßstab reduzierte Wirtschaft des Planeten. Das
berührte den herrschenden Komfort absolut nicht, weil alles sich
proportional zu den Bürgern verkleinerte. Die Kirchen wählten
das geringere Übel und billigten diese Manöver. Zum erstenmal
seit undenklichen Zeiten entstand überall erfreulicher Platz;
obendrein fühlten sich alle leicht – selbst die
korpulentesten Dickwänste wogen nur noch zweihundert Gramm. Die
Skeptiker und Schwarzseher behaupteten jedoch, das sei eine
Krüppelleichtigkeit, deren Folgen sich als fatal erweisen
würden.
    Doch die quälende Enge stellte sich erneut
ein. Leider schon nach einer Dekade. Obwohl die leitenden
Verkleinerungsgengenieure erkannten, daß eine weitere
Mikrominiaturisierung kein vollwertiges Mittel war, weil die
unverengbare Struktur der Materie ihr eine Grenze setzte, taten sie
dennoch gezwungenermaßen den ebenso drastischen wie verzweifelten
Schritt einer zweiten Reduktion im gleichen Maßstab wie zuvor,
also eins zu zehn. Die nächste Generation der Semeniden brauchte
eine Feuerwehrleiter, um an einen der großväterlichen, in
den historischen Museen ausgestellten Aschenbecher heranzukommen. Jetzt
konnte man endlich aus voller Brust Luft holen. Jedes Beet wurde zum
Garten und die Rabatte zu einer balsamisch duftenden Wildnis. Über
die Mikrosemeniden brachen damals drei Weltkriege nacheinander herein
– gegen die Fliegen, die Mücken und die Ameisen. Die
Ältesten konnten sich nicht auf derartige Katastrophen besinnen,
besonders weil während der vernichtenden Luftangriffe der
Mücken die aus den Kellern der Städte hervorrückenden
Schaben den Armeen in den Rücken fielen. Ihren schwarzen Panzer
durchschlug selbst die Pak nicht auf Anhieb, was leicht
verständlich ist, wenn man bedenkt, daß ein mittlerer
Panzerwagen damals fünf Gramm wog. Die schrecklichen Mücken
– die Spannweite ihrer Hautflügel war größer als
die der ausgebreiteten Arme eines erwachsenen Semeniden –
stürzten sich auf die Passanten, um ihr Blut zu trinken und die
zusammengeschrumpften Leichen auf dem Gehsteig zurückzulassen; die
Fliegen verzehrten ihre Opfer schmatzend mit abscheulich klebrigen
Rüsseln. Obschon die Hafthohl- und Thermitgranaten
schließlich auch mit den dicksten Chitinpanzern fertig wurden,
obschon der Feind dicht bei dicht fiel, obschon die Zahl der
Trophäen ins Unermeßliche ging – die gefallenen
Käfer wurden zu Badewannen umgearbeitet, aus den Hautflüglern
konnte man Segelflugzeuge herstellen –, gelang es doch nicht, ihn
restlos zu vernichten, und in ungewöhnlicher Eile wurden in einem
Masseneinsatz der technischen Mittel die Städte mit
insektendichten Kuppeln aus Plexiglas überdeckt. Wie die
Chronisten schreiben, ging auf diese Weise die offene Miniterra in eine
geschlossene über. Die Schaben führten übrigens weiter
Kleinkrieg gegen die Semeniden; jetzt trat jedoch die Polizei an die
Stelle der Armee, und die Hauptrolle bei der Verteidigung
übernahmen automatische Fallen, vor allem aber mit Laserwaffen
ausgerüstete Roboter. Bis zum Ende des Jahrhunderts blieben noch
vereinzelte Siedlungen unter freiem Himmel erhalten, und auch das nur
dank der Mückenabwehrartillerie und der Geschosse mit
Selbstlenkung, die auf Summen ansprachen. Die Versuche, gewisse
Insekten zu domestizieren (Wespen wurden zugeritten), brachten nicht
das erhoffte Resultat, lediglich die Tausendfüßler
übernahmen eine Zeitlang in den Vorschulen die Rolle von Ponys. Es
lohnt auch nicht, sich über die Nebenvorteile der

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