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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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ich mich fragen, was sich in einem kleinen Kind von ein bis zwei Jahren abspielt, wenn sein Körper für sexuelle Bedürfnisse des Erwachsenen mißbraucht wird. Wie kam ich bloß auf diese Gedanken? Vielleicht weil mir die Freude, die die Kinder hier zeigten, eine Spannung verriet, ein Mißtrauen. Ich dachte: Dieses schnelle sich Drehen im Kreise konnte ihrem Körper als etwas Fremdes, Ungewohntes und Beängstigendes vorkommen. So wirkten ihre Gesichter, als sie ausstiegen, beunruhigt, verwirrt. Die Kinder klammerten sich alle fest an ihre Eltern. Vielleicht, so mußte ich denken, ist diese Art von Lustgefühl gar nicht der kleinen kindlichen Seele entsprechend, gar nicht von Natur aus programmiert. Es ist eine künstliche Einrichtung, mit derheute Menschen Geld verdienen. Und so kam ich zurück zu meinem Thema: Wie fühlt sich ein kleines Mädchen, das sexuell mißbraucht wird, wenn es zum Beispiel von der Mutter kaum berührt wird, weil sie es ablehnt und infolge ihrer eigenen Kindheit alle warmherzigen Gefühle vor sich selbst verbirgt? Dann ist das Mädchen nach Berührungen so ausgehungert, daß es nahezu jeden Körperkontakt wie die Erfüllung eines dringenden Wunsches mit Dankbarkeit annimmt. Doch das Kind wird irgendwie dumpf spüren, wenn sein eigentliches Wesen, seine Sehnsucht nach echter Kommunikation, nach zärtlicher Berührung vom Vater im Grunde nur ausgebeutet wird, wenn sein Körper einzig zum Zwecke der Masturbation oder zur Bestätigung der eigenen Macht des Erwachsenen benutzt wird.
    Es kann passieren, daß dieses Kind Gefühle der Enttäuschung, der Trauer und der Wut über den Verrat an seinem wahren Wesen, über das unerfüllte Versprechen, tief unterdrücken und sich weiter an den Vater klammern wird, weil es die Hoffnung nicht aufgeben kann, daß er eines Tages das Versprechen der ersten Berührungen einhält, dem Kind seine Würde zurückgibt und ihm zeigt, was Liebe ist. Denn sonst ist niemand in der ganzen Umgebung da, der dem Mädchen Liebe überhaupt versprochen hat. Aber diese Hoffnung kann zerstörerisch sein. Es kann nämlich vorkommen, daß dieses Mädchen als erwachsene Frau am Zwang zur Selbstverstümmelung leidet und Therapien aufsuchen muß, daß sie nur dann eine Art von Lust spüren kann, wenn sie sich weh tut. Sie kann nur dann überhaupt etwas spüren, weil der Mißbrauch durch den Vater dazu führte, daß sie die eigenen Gefühle fast umgebracht und sie jetzt nicht zur Verfügung hat. Oder es kann geschehen, daß diese Frau an einem Genitalekzemleidet, wie das die Autorin Kristina Meyer in ihrem Buch Das doppelte Geheimnis beschreibt. Sie kam zur Behandlung mit einer ganzen Palette von Symptomen, die eindeutig darauf hinwiesen, daß sie als kleines Kind vom Vater sexuell mißhandelt wurde. Ihre Analytikerin hat nicht gleich diesen Verdacht gehabt, hat aber Kristina doch nach bestem Wissen und Gewissen soweit begleitet, daß Kristina selbst ihre Geschichte der grausamen, brutalen Vergewaltigungen durch den Vater aus ihrer völligen Verdrängung herausholen konnte. Dieser Prozeß dauerte sechs Jahre, in einem strengen analytischen Setting, später gefolgt von Gruppentherapie und anderen körpertherapeutischen Maßnahmen.
    Vermutlich hätte ein solcher Prozeß verkürzt werden können, wenn die Analytikerin von Anfang an ein Genitalekzem als einen eindeutigen Hinweis auf eine frühe Ausbeutung des kindlichen Körpers hätte sehen dürfen. Vor sechzehn Jahren war ihr das offenbar noch nicht möglich. Auf ihre Haltung angesprochen, meinte sie, daß Kristina dieses Wissen nicht hätte aushalten können, wenn sie damit konfrontiert worden wäre, bevor eine gute analytische Beziehung zustande gekommen war.
    Vielleicht hätte ich früher diese Meinung geteilt, doch aufgrund meiner späteren Erfahrungen neige ich dazu, anzunehmen, daß es nie zu früh sein kann, dem einst mißhandelten Kind das, was man klar erkennt, zu sagen und ihm seine Parteilichkeit anzubieten. Kristina Meyer hat mit einem unerhörten Mut um ihre Wahrheit gerungen, und sie verdiente es, von Anfang an in ihrem Dunkel gesehen und begleitet zu werden. Sie hat immer wieder davon geträumt, daß die Analytikerin sie nur einmal in die Arme nimmt und tröstet, doch diese blieb ihrer Schule treu und hat Kristinas harmlosen Wunsch niemals erfüllt. Dabei hätte sieKristina höchstens vermitteln können, daß es liebevolle Umarmungen gibt, die die Grenzen des anderen respektieren und doch zeigen können, daß sie auf

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