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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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eine adäquate Weise befriedigt werden kann und nicht mit allzuviel Essen. Das Essen kann dieses Bedürfnis nach Freiheit niemals befriedigen, und die Freiheit, soviel zu essen und zu trinken wie man will, kann den Hunger nach Selbstbestimmung nicht stillen, sie kann die echte Freiheit nicht ersetzen.
    Bevor sich der Mann verabschiedet, sagt er mit Bestimmtheit, er werde noch heute ein Inserat aufgeben, daß er eine Wohnung suche, und er sei sich ganz sicher, bald eine zu finden. Schon nach einigen Tagen teilte mir Andreas mit, daß er ein Haus gefunden habe, das ihm besser gefalle als das Haus seiner Eltern und wofür er auch weniger Miete bezahlen müsse. Wieso hat es so lange gedauert, bis er auf diese einfache Lösung verfiel? Weil Andreas im Haus seiner Eltern hoffte, endlich das von seiner Mutter und seinem Vater zu bekommen, wonach er sich als Kind so sehr gesehnt hatte. Was sie ihm als Kind versagt haben, konnten sie ihm auch nicht als Erwachsenem geben. Sie behandelten ihn weiter wie ihr Eigentum, hörten nie zu, wenn er seine Wünsche äußerte, nahmen es als selbstverständlich hin, daß er das Haus umbaute und Geld darin investierte, ohne etwas zurückzubekommen, weil sie seine Eltern waren und meinten, das Recht darauf zu haben. Das glaubte auch er. Erst im Gespräch mit einem Wissenden Zeugen, als der ich mich zur Verfügung stellte, gingen ihm die Augen auf. Erst da realisierte er, daß er sich wie in der Kindheit ausbeuten ließ und auch noch meinte, dafür dankbar sein zu müssen. Nun war es ihm möglich, die Illusion aufzugeben, daß sich seine Eltern eines Tages ändern würden. Einige Monate später schrieb er mir:
     
    »Meine Eltern versuchten, mir Schuldgefühle zu machen, als ich die Wohnung gekündigt habe. Sie wollten mich nicht gehen lassen. Als sie merkten, daß sie mich zu nichts mehr zwingen konnten, boten sie mir an, die Miete zu reduzieren und mir einen Teil meiner Investitionen zurückzuzahlen. Da merkte ich, daß nicht ich von diesem Vertrag profitiert hatte, sondern sie. Ich bin auf all diese Vorschläge nicht eingegangen. Doch der ganze Prozeß war nicht schmerzlos. Ich mußte die Wahrheit deutlich sehen. Und das tat weh. Ich fühlte das Leiden des kleinen Kindes, das ich war, das niemals geliebt wurde, niemals angehört wurde, niemals beachtet wurde, das sich ausbeuten ließ und immer nur wartete und hoffte, daß es einmal anders sein wird. Und nun passierte das Wunder, daß ich desto mehr abnahm, je mehr ich fühlte. Ich brauchte keinen Alkohol mehr, um meine Gefühle zu vernebeln, bekam einen klarenKopf, und wenn die Wut gelegentlich kam, wußte ich, wem sie galt: nicht meinen Kindern, nicht meiner Frau, sondern meiner Mutter und meinem Vater, denen ich nun meine Liebe entziehen konnte. Ich habe realisiert, daß diese Liebe nichts anderes war als meine Sehnsucht, geliebt zu werden, die nie erfüllt wurde. Diese Sehnsucht mußte ich aufgeben. Plötzlich brauchte ich nicht mehr soviel zu essen wie früher, war weniger müde, meine Energien standen mir wieder zur Verfügung, und das zeigte sich auch in meiner Arbeit. Mit der Zeit hat auch die Wut auf meine Eltern nachgelassen, weil ich jetzt das für mich tue, was ich brauche, und nicht mehr warte, daß sie es tun würden. Ich zwinge mich nicht mehr, sie zu lieben (wofür auch?), ich habe nicht mehr Angst, daß ich mir nach ihrem Tod Schuldgefühle mache, wie meine Schwester mir das voraussagt. Ich vermute, daß ihr Tod eine Erleichterung mit sich bringen wird, weil der Zwang zur Heuchelei damit ein Ende nimmt. Doch ich versuche auch jetzt schon, mich diesem Zwang zu entziehen.
    Meine Eltern lassen mich durch meine Schwester wissen, daß sie unter meinen sachlichen Briefen leiden, weil diesen Briefen die frühere Herzlichkeit fehlt. Sie würden sich wünschen, ich wäre so, wie ich früher war. Das kann ich aber nicht sein und will es auch nicht. Ich will nicht mehr die Rolle in ihrem Stück spielen, die sie mir aufgezwungen haben. Ich habe nach langer Suche einen Therapeuten gefunden, der mir einen guten Eindruck macht und bei dem ich so reden möchte, wie ich mit Ihnen gesprochen habe, offen, ohne meine Eltern zu schonen, ohne die Wahrheit zu verbrämen, auch meine eigene Wahrheit nicht, und ich bin vor allem froh, daß ich den Entschluß fassen konnte, dieses Hauszu verlassen, das mich so lange an die Hoffnungen gebunden hat, die sich nie erfüllen können.«
     
    Ich habe einmal eine Diskussion über das Vierte Gebot mit der

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