Die Revolte des Koerpers
Frage eingeleitet, worin eigentlich die Liebe zu den einst mißhandelnden Eltern bestünde. Die Antworten kamen sehr schnell, ohne lange Überlegung. Es wurden verschiedene Gefühle genannt: das Mitleid für die alten und oft kranken Menschen, die Dankbarkeit für das erhaltene Leben und für die guten Tage, an denen man nicht geschlagen wurde, die Angst, ein böser Mensch zu sein, die Überzeugung, man müsse die Taten der Eltern vergeben, sonst könne man nicht erwachsen werden. Es ergab sich eine heftige Diskussion, in der diese Meinungen von anderen in Frage gestellt wurden. Eine Teilnehmerin namens Ruth sagte mit einer unerwarteten Bestimmtheit:
»Ich kann mit meinem Leben beweisen, daß das Vierte Gebot irreführt, denn seitdem ich mich von den Ansprüchen meiner Eltern befreit habe, ihre ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen nicht mehr erfülle, fühle ich mich gesünder als je zuvor. Ich verlor meine Krankheitssymptome, ich reagiere nicht mehr gereizt auf meine Kinder, und ich meine heute, daß all dies kam, weil ich mich einem Gebot fügen wollte, das meinem Körper nicht gut tat.«
Auf die Frage, warum es denn eine solche Macht über uns habe, meinte Ruth, weil es die Angst unterstützt und die Schuldgefühle, die uns unsere Eltern sehr früh einprogrammiert haben. Sie selbst hätte unter starken Ängsten gelitten, kurz bevor sie realisierte, daß sie ihre Eltern garnicht liebt, sondern lieben wollte und sich selbst und ihnen das Gefühl der Liebe vorgemacht hatte. Nachdem sie ihre Wahrheit akzeptiert hatte, fielen die Ängste von ihr ab.
Ich denke, daß es vielen Menschen so ergehen würde, wenn man ihnen sagen könnte: ›Du brauchst deine Eltern nicht zu lieben und nicht zu ehren, weil sie dich geschädigt haben. Du brauchst dich nicht zu Gefühlen zu zwingen, weil der Zwang noch nie etwas Gutes geboren hat. In deinem Fall kann er destruktiv wirken, indem dein Körper dafür bezahlen wird.‹
Diese Diskussion bestätigte mein Gefühl, daß wir manchmal das ganze Leben einem Phantom gehorchen, das uns im Namen der Erziehung, der Moral oder Religion nötigt, unsere natürlichen Bedürfnisse zu ignorieren, sie zu verdrängen, gegen sie anzukämpfen, um schließlich mit Krankheiten dafür zu bezahlen, deren Sinn wir weder verstehen können noch wollen und denen wir mit Medikamenten beizukommen versuchen. Wenn es in manchen Therapien gelingt, durch das Erwachen der verdrängten Emotionen doch noch den Zugang zu seinem wahren Selbst zu erhalten, dann sprechen manche Therapeuten, in Anlehnung an die Gruppen der Anonymen Alkoholiker, von der Höheren Macht und untergraben damit das Vertrauen, das dem einzelnen von Geburt an gegeben wurde, das Vertrauen in seine Fähigkeit, zu spüren, was ihm guttut und was nicht.
Dieses Vertrauen wurde mir von der Geburt an durch meine Mutter und meinen Vater ausgetrieben. Ich mußte lernen, alles was ich fühlte, mit den Augen meiner Mutter zu sehen und zu beurteilen und meine Gefühle und Bedürfnisse sozusagen umzubringen. So habe ich mit der Zeit die Fähigkeit, meine Bedürfnisse zu spüren undnach ihrer Befriedigung zu suchen, stark eingebüßt. Ich brauchte zum Beispiel achtundvierzig Jahre meines Lebens, um mein Bedürfnis zu entdecken, malen zu wollen und es mir zu erlauben. Doch es hat sich schließlich durchgesetzt. Noch länger dauerte es, bis ich mir das Recht zugestand, meine Eltern nicht zu lieben. Ich merkte mit der Zeit immer deutlicher, wie mich die Anstrengung, jemanden zu lieben, der mein Leben stark beeinträchtigt hatte, zutiefst schädigte. Weil sie mich von meiner Wahrheit wegführte, zum Selbstbetrug zwang, zu einer Rolle, die man mir so früh aufgezwungen hat, die Rolle des braven Mädchens, das sich den emotionalen Ansprüchen, getarnt als Erziehung und Moral, fügen mußte. Je mehr ich mir treu wurde, je besser ich meine Gefühle zulassen konnte, desto deutlicher sprach mein Körper und führte mich jedesmal zu Entscheidungen, die seinen natürlichen Bedürfnissen zum Ausdruck verhalfen. Ich konnte aufhören, im Spiel der anderen mitzumachen, mir die guten Seiten meiner Eltern vor Augen zu fuhren und mich von neuem selbst zu verwirren, wie ich es als Kind getan habe. Ich konnte mich für das Erwachsensein entscheiden, und die Verwirrung verschwand.
Ich schulde meinen Eltern keine Dankbarkeit für meine Existenz, weil sie diese gar nicht wollten. Die Ehe wurde ihnen von den beiderseitigen Eltern aufgezwungen. Ich wurde
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