Die Revolte des Koerpers
dieser Welt nicht allein ist. Diese hartnäckige Weigerung der Analytikerin, die sich ansonsten durch die Tragik der Patientin erschüttern läßt, mag heute, zuzeiten aller möglichen Körpertherapien, seltsam erscheinen, doch aus der psychoanalytischen Sicht ist sie ganz und gar konform.
Ich komme zurück zu meinem Ausgangspunkt in diesem Kapitel und zu dem Bild der kleinen Kinder, die sich im Karussell drehen und deren Gesichter in meinen Augen neben der Freude auch Angst und Unbehagen ausdrückten. Der Vergleich mit der Inzestsituation beansprucht zwar keine Allgemeingültigkeit, es war vielmehr ein Einfall, auf den ich mich eingelassen habe. Doch die Tatsache der widersprüchlichen Emotionen, denen wir als Kinder und Erwachsene sehr häufig ausgesetzt werden, ist durchaus ernst zu nehmen. Wenn wir als kleine Kinder mit Erwachsenen zu tun haben, die ihre Gefühle niemals zu klären versuchten, sind wir häufig mit einem Chaos konfrontiert, das uns aufs Schwerste verunsichert. Um diesen Gefühlen der Verwirrung und Verunsicherung zu entkommen, greifen wir zum Mechanismus der Abspaltung und der Verdrängung. Wir fühlen keine Angst, wir lieben unsere Eltern, wir vertrauen ihnen und versuchen, auf jeden Fall ihren Wünschen so zu entsprechen, daß sie mit uns zufrieden sind. Erst später im Erwachsenenalter meldet sich diese Angst dann gewöhnlich bei den Partnern, und wir verstehen sie nicht. Wir wollen auch hier, wie schon in der Kindheit, Widersprüche des anderen wortlos akzeptieren, um geliebt zu werden, doch der Körper meldet seine Ansprüche auf die Wahrheit und produziert Symptome, wenn wir die Angst, die Wut, die Empörungund das Entsetzen des sexuell mißhandelten Kindes immer noch nicht wahrhaben wollen.
Aber auch beim besten Willen werden wir die frühen Situationen nicht auffinden können, wenn wir den Einstieg in der Gegenwart vernachlässigen. Nur in der Auflösung der heutigen Abhängigkeit können wir die Schäden reparieren, das heißt die Folgen der frühesten Abhängigkeit deutlich sehen und mit diesen aufräumen. Dazu ein Beispiel: Andreas, ein Mann mittleren Alters, leidet seit mehreren Jahren an Übergewicht und hat den Verdacht, daß dieses ihn quälende Symptom mit seiner Beziehung zum autoritären und mißhandelnden Vater zu tun hat. Aber er kann es nicht auflösen. Er unternimmt alles mögliche, um das Gewicht zu verringern, fügt sich allen Vorschriften der Ärzte, kann auch seine Wut auf den Vater seiner Kindheit spüren, und doch hilft das alles nicht. Andreas leidet an gelegentlichen Wutausbrüchen, beschimpft seine Kinder, obwohl er das nicht tun will, schreit seine Partnerin an, obwohl er auch dies nicht tun will. Er beruhigt sich mit Hilfe von Alkohol, hält sich aber nicht für einen Alkoholiker. Er möchte mit seiner eigenen Familie freundlich umgehen, und der Wein hilft ihm, seine heftige Wut zu bezähmen und auch angenehme Gefühle zu erleben.
Im Gespräch erzählt Andreas beiläufig, daß er es seinen Eltern nicht abgewöhnen könne, ihn mit Besuchen zu überraschen, ohne ihn vorher telefonisch über ihre Absichten zu informieren. Ich frage, ob er seine Wünsche geäußert habe, und er antwortet mir lebhaft, daß er das jedesmal sage, aber dies ignoriert werde. Die Eltern meinen, sie hätten doch das Recht hereinzuschauen, weil das Haus ja ihnen gehöre. Ich staune und frage, weshalb sie das ihr eigenes Haus nennen. Da erfahre ich, daß Andreas tatsächlich Mieter in einem Haus ist, das seinen Eltern gehört. Ich frage, ob es auf der ganzen Welt kein Haus gebe, das er für den gleichen oder etwas höheren Mietzins mieten könnte, um nicht von den Eltern abhängig zu sein, um zu vermeiden, daß sie ihn jeden Moment überraschen und über seine Zeit verfügen können. Nun macht er große Augen und sagt, diese Frage habe er sich bisher noch gar nicht gestellt.
Das mag erstaunlich klingen, ist es aber nicht, wenn man weiß, daß dieser Mann immer noch in der kindlichen Situation gefangen ist, in der er sich der Autorität, dem Willen und der Macht der vereinnahmenden Eltern fügen mußte, ohne einen Ausweg sehen zu können, vor lauter Angst, sie würden ihn wegstoßen. Diese Angst begleitet ihn noch heute, er ißt nach wie vor viel zuviel, auch wenn er sich Mühe gibt, die Diäten zu befolgen. Denn sein Bedürfnis, sich die richtige »Nahrung« zuzuführen, das heißt nicht von den Eltern abhängig zu sein, für sein Wohlbefinden selber zu sorgen, ist so stark, daß es nur auf
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