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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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äußerlich entziehen.
    Und die Kinder und Enkelkinder von heute dürfen merken, dürfen das glauben, was sie als Kinder sahen und spürten, und müssen sich nicht zur Blindheit zwingen. Denn sie bezahlten die aufgezwungene Blindheit mit körperlichen oder seelischen Erkrankungen, deren Ursachen so lange verschleiert waren. Wenn sie bei dieser Verschleierung nicht länger mitmachen, haben sie die Chance, die Kette der Gewalt und der Selbsttäuschung zu sprengen und keine Opfer von ihren Kindern mehr zu fordern.
    Kürzlich wurden in einer Fernsehsendung Kinder gezeigt, die an Neurodermitis leiden, also am ständigen Jucken ihres ganzen Körpers. Die in dieser Sendung auftretenden Fachleute behaupteten übereinstimmend, diese Krankheit sei unheilbar. Von psychischen Ursachen dieses Juckens war überhaupt nicht die Rede, obwohl es auffallend war, daß Kinder, die mit ihren gleichaltrigen Leidensgenossen in der Klinik zusammentrafen, eine Besserung, wenn nicht Heilung aufwiesen. Schon diese Tatsache ließ mich als Zuschauerin vermuten, daß die Kontakte in der Klinik den Kindern das erleichternde Gefühl gaben, nicht der einzige Mensch mit diesem unverständlichen Symptom zu sein.
    Kurz nach dieser Sendung lernte ich Veronika kennen, die während ihrer Therapie eine Neurodermitis entwickelte und mit der Zeit erkannte, daß gerade dieses Symptom es ihr ermöglichte, ihre frühe verhängnisvolle Bindung an den Vater aufzulösen. Veronika war das letzte Kind von fünf Mädchen; von ihren älteren Schwestern wurde sie sexuell ausgebeutet, ihre Mutter war Alkoholikerin und bedrohte mit unerwarteten Wutausbrüchen fortwährend die Existenz des Kindes. In dieser Situation gab sich das kleine Mädchen der vergeblichen Hoffnung hin, der Vater würde es einmal aus dieser Situation retten. Veronika idealisierte ihren Vater ihr Leben lang, obwohl gar kein Anlaß, keine Erinnerung bestand, die diese hohe Einschätzung jemals hätte bestätigen können. Der Vater war ebenfalls Alkoholiker und zeigte an seinen Töchtern lediglich sexuelles Interesse. Doch Veronika arrangierte sich mit ihrer Hoffnung, fünfzig Jahre lang blieb sie ihren Illusionen treu. Während ihrer Therapie litt sie allerdings unter einem starken Juckreiz, wenn sie mit Menschen zu tun hatte, denen sie sich nicht verständlich machen konnte und von denen sie Hilfe erwartete.
    Veronika erzählte mir, daß es für sie lange ein Rätsel blieb, weshalb sie immer wieder von grausamen Juckanfällen geplagt wurde und nichts dagegen tun konnte, außer wütend zu sein, daß sie sich kratzen mußte. In diesem Schrei ihrer Haut verbarg sich, wie sich später zeigte, die Wut auf ihre ganze Familie, aber vor allem auf den Vater, der für sie niemals vorhanden war, dessen Retterrolle sie sich aber ausgedacht hat, um die Einsamkeit in der mißhandelnden Familie auszuhalten. Daß diese Rettungsphantasie fünfzig Jahre lang überdauerte, machte die Wut natürlich noch größer. Aber mit Hilfe der Therapeutin fand sie schließlich heraus, daß sich der Juckreiz stets dann einstellte, wenn sie ein Gefühl zu unterdrücken versuchte. Es ließ sie nicht in Ruhe, bis sie das Gefühl zulassen und erleben konnte. Dank ihrer Gefühle merkte sie schließlich immer deutlicher, daß sie eine Phantasie um ihren Vater herum baute, die keinerlei reale Fundamente hatte. In allen ihren Beziehungen mit Männern lebte diese Phantasie auf. Sie wartete, daß der geliebte Vater sie vor der Mutter und den Schwestern in Schutz nehmen und ihre Not verstehen würde. Daß dies nicht geschah und nicht geschehen konnte, wäre für jeden Außenstehenden leicht erkennbar gewesen. Nur für Veronika selbst war gerade diese realistische Sicht völlig undenkbar, sie fühlte sich, als müsse sie sterben, wenn sie die Wahrheit zulassen würde.
    Das ist verständlich, denn in ihrem Körper lebte das ungeschützte Kind, das ohne die Illusion, der Vater würdehelfen, hätte sterben müssen. Doch als Erwachsene konnte sie diese Illusion aufgeben, weil das Kind nicht mehr allein mit seinem Schicksal war. Von nun an existierte in ihr der erwachsene Teil, der es beschützen konnte, der das tun konnte, was der Vater nie getan hatte: das Kind in seiner Not zu verstehen und es vor Mißbrauch zu bewahren. Das erlebte sie im Alltag immer wieder, da es ihr endlich gelang, nicht mehr wie früher die Bedürfnisse ihres Körpers zu ignorieren, sondern diesen voll und ganz ernst zu nehmen. Der Körper signalisierte diese Erfordernisse

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