Die Revolte des Koerpers
ignoriert. Doch gerade die Anorexie zeigt ganz eindeutig, wie klar der Körper die Wahrheit der Erkrankten signalisiert.
Viele Anorektiker denken: »Ich muß meine Eltern lieben und ehren, ihnen alles verzeihen, sie verstehen, positive Gedanken haben, zu vergessen lernen, ich muß das und jenes und darf auf keinen Fall meine Not zeigen.«
Wer aber, so stellt sich die Frage, bin ich dann noch, wenn ich mir Gefühle abzuringen versuche und nicht mehr wissen darf, was ich wirklich fühle, empfinde, will, brauche und warum? Ich kann mir zwar hohe Leistungen abverlangen, in der Arbeit, im Sport, im Alltag. Aber wenn ich mich zu Gefühlen zwingen will (sei es mit oder ohne Hilfe von Alkohol, Drogen oder Medikamenten), werde ich früher oder später mit den Folgen des Selbstbetrugs konfrontiert. Ich reduziere mich zu einer Maske und weiß gar nicht, wer ich wirklich bin. Denn die Quelle dieses Wissens findet sich in meinen echten Gefühlen, die im Einklang mit meinen Erfahrungen stehen. Und der Hüter dieser Erfahrungen ist mein Körper. Sein Gedächtnis.
Wir können uns nicht lieben, achten, verstehen, wenn wir die Botschaften unserer Emotionen wie etwa der Wut ignorieren. Dennoch gibt es eine ganze Reihe »therapeutischer« Regeln und Techniken zur Manipulation der Emotionen. Sie sagen uns in vollem Ernst, wie man Trauer stoppen und Freude erzeugen kann. Menschen mit schwersten körperlichen Symptomen lassen sich in Kliniken so beraten, in der Hoffnung, daß sie sich auf diese Weise von ihrem nagenden Groll auf ihre Eltern befreien können. Das kann eine Weile gelingen und eine Erleichterung bringen, weil sie damit die Zustimmung ihrer Therapeuten erreichen. Wie ein braves Kind, das sich den Erziehungsmethoden der Mutter fügt, fühlen sie sich dann akzeptiert und geliebt. Doch mit der Zeit meldet sich der Körper mit einem Rückfall wieder, wenn er so ganz und gar nicht angehört wird.
Ähnlich schwer tun sich Therapeuten mit der Behandlung der Symptome hyperaktiver Kinder. Wie will man diese Kinder in die Familien integrieren, wenn ihr Leiden zum Beispiel als genetisch bedingt angesehen wird oder als eine schlimme Unart, die wegerzogen werden sollte? Und all das, damit dessen wahre Ursachen geheim bleiben? Wenn wir aber bereit sind zu sehen, daß diese Emotionen einen Ursprung in der Realität haben, daß sie Reaktionen auf Verwahrlosung, Mißhandlung oder unter anderem auf den Mangel an nährender Kommunikation sind, sehen wir nicht mehr sinnlos herumtobende Kinder, sondern Kinder, die leiden und nicht wissen dürfen weshalb. Wenn wir es wissen dürfen, können wir uns und ihnen helfen. Vielleicht furchten wir (und sie) nicht so sehr dieEmotionen, den Schmerz, die Angst, die Wut, sondern das mit den Emotionen auftauchende Wissen darüber, was unsere Eltern wirklich mit uns getan haben.
Die von den meisten Therapeuten bejahte (moralische) Verpflichtung, die Schuldzuweisung an die Eltern unter allen Umständen zu unterlassen, führt zu einer freiwilligen Ignoranz bezüglich der Ursachen einer Erkrankung und folglich auch der der Behandlungsmöglichkeiten. Die modernen Hirnforscher wissen seit einigen Jahren, daß der Mangel an guter und verläßlicher Bindung an die Mutter in den ersten Monaten bis zum dritten Lebensjahr entscheidende Spuren im Gehirn hinterläßt und zu ernsthaften Störungen führt. Es wäre längst an der Zeit, dieses Wissen unter den Therapeuten in Ausbildung zu verbreiten. Damit würden sich vielleicht die schädlichen Einflüsse ihrer traditionellen Erziehung etwas reduzieren lassen. Denn es war ja oft die Erziehung, die Schwarze Pädagogik, die es uns verbot, die Taten der Eltern zu hinterfragen. Auch die konventionelle Moral, die religiösen Vorschriften und nicht zuletzt manche Theorien der Psychoanalyse tragen dazu bei, daß sogar Kindertherapeuten zögern, die Verantwortung der Eltern deutlich wahrzunehmen und zu benennen. Aus Furcht, ihnen Schuldgefühle zu machen, sind sie der Meinung, daß damit dem Kind geschadet werden könnte.
Doch ich bin vom Gegenteil überzeugt. Die Wahrheit zu sagen kann auch eine Weckfunktion haben, wenn die Begleitung gesichert ist. Selbstverständlich kann der Kindertherapeut die Eltern des »gestörten« Kindes nicht ändern, aber er kann wesentlich zur Verbesserung ihrer Beziehung zum Kind beitragen, wenn er ihnen das nötige Wissen vermittelt. Er eröffnet ihnen zum Beispiel einen Zugang zu neuen Erfahrungen, wenn er sie über die Bedeutungder
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