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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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in die Rolle des kleinen Mädchens schlüpft, das die Wünsche der Eltern erfüllen möchte: sie zu lieben, ihnen zu verzeihen, die guten Momente zu erinnern usw. Das Kind hat dies unentwegt versucht, in der Hoffnung, die Widersprüche der elterlichen Botschaften und Aktionen zu begreifen, denen es ausgesetzt war. Aber diese innere »Arbeit« hat seine Verwirrung nur noch verstärkt. Denn das Kind konnte unmöglich begreifen, daß die Mutter sich in einem inneren Bunker gegen die eigenen Gefühle verschanzt hatte und deshalb ohne Antennen für seine Bedürfnisse lebte. Und wenn die Erwachsene das begreift, sollte sie nicht das hoffnungslose Bemühen des Kindes fortsetzen, nicht versuchen, eine objektive Einschätzung zu erzwingen, das Gute dem Schlechten entgegenzuhalten, sondern nach ihren eigenen Gefühlen handeln, die wie alles Emotionale immer subjektiv sind: Was hat mich in meiner Kindheit gequält? Was durfte ich gar nicht fühlen?
    Es geht nicht um eine pauschale Verurteilung der Eltern, sondern um das Auffinden der Perspektive des leidenden,sprachlosen Kindes und um die Aufgabe der Bindung, die ich als destruktiv bezeichne. Diese Bindung besteht, wie ich schon sagte, aus Dankbarkeit, Mitleid, Verleugnung, Sehnsucht, Beschönigung und zahlreichen Erwartungen, die stets unerfüllt bleiben und bleiben müssen. Der Weg zum Erwachsenwerden liegt nicht in der Toleranz für die erlittenen Grausamkeiten, sondern in der Erkenntnis seiner Wahrheit und im Wachsen der Empathie für das geschlagene Kind. Er liegt in der Realisierung, wie die Mißhandlungen das ganze Leben des Erwachsenen behindert haben, wie viele Möglichkeiten zerstört wurden und wieviel von diesem Elend an die nächste Generation ungewollt weitergegeben wurde. Diese tragische Feststellung ist nur möglich, wenn wir aufhören, die guten und die schlechten Seiten der mißhandelnden Eltern gegeneinander aufzurechnen, weil wir damit wieder in das Mitleid verfallen, in die Verleugnung der Grausamkeit, in der Annahme, dies sei eine differenziertere Auffassung der Dinge. Ich meine, daß es die kindliche Anstrengung ist, die sich hier spiegelt, und daß der Erwachsene diese Aufrechnung meiden muß, weil sie verwirrend ist und das eigene Leben behindert. Selbstverständlich brauchen Menschen, die in der Kindheit nie geschlagen wurden, nie sexuelle Gewalt über sich haben ergehen lassen müssen, diese Arbeit nicht zu machen, sie können ihre guten Gefühle in der Gegenwart ihrer Eltern genießen, diese auch ohne Einschränkung Liebe nennen und brauchen sich nicht zu verleugnen. Diese Bürde bleibt nur einst mißhandelten Menschen, und zwar dann, wenn sie nicht gewillt sind, den Selbstbetrug mit Erkrankungen zu bezahlen. Daß dies die Regel ist, erfahre ich beinahe täglich.
    Eine Frau schreibt zum Beispiel im Forum, sie habe im Internet gelesen, man könne sich nicht wirklich helfen,wenn man die Eltern nicht mehr sehe. Dann würde man sich von ihnen verfolgt fühlen. Und genau das erlebe sie nun. Seitdem sie ihre Eltern nicht mehr besuche, müsse sie Tag und Nacht an sie denken und lebe in ständiger Angst. Das ist nur allzu begreiflich: Sie lebt in Panik, weil die angeblichen Experten im Internet ihre eigene Angst vor den Eltern bei ihr noch verstärkt haben. Die solcherart gepredigte Moral besagt, daß ein Mensch kein Recht auf sein eigenes Leben, seine Gefühle und Bedürfnisse habe. Vermutlich wird im Internet kaum etwas anderes zu finden sein, weil sich dort nichts anderes spiegelt als unsere Mentalität, die wir seit Tausenden von Jahren beibehalten: Ehre deine Eltern, damit du lange lebst.
    Im ersten Teil dieses Buches zeigen die Biographien einzelner Schriftsteller, daß dies nicht immer der Fall ist, besonders bei Menschen, die als Kinder sehr sensibel und intelligent waren. Doch ein langes Leben ist auch noch kein Beweis dafür, daß die im Vierten Gebot enthaltene Drohung berechtigt ist. Ganz im Gegenteil: Es geht ja auch um die Qualität des Lebens. Es geht darum, daß sich die Eltern und Großeltern ihrer Verantwortung bewußt werden und nicht ihre Ahnen auf Kosten ihrer Kinder und Enkelkinder ehren, die sie gedankenlos sexuell mißhandeln, schlagen oder auf eine andere Art und Weise quälen, angeblich zu ihrem Besten. Oft können Eltern den eigenen Körper entlasten, wenn sie ihre überbordenden, ihren eigenen Eltern geltenden Gefühle an den Kindern abreagieren. Sie können allerdings schnell erkranken, wenn diese Kinder sich dann zumindest

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