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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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sich unternehmen ließe, damit die kleine Mary wieder Vertrauen gewinne. Die Lehrerin bot nun von selber an, sich beim Kind zu entschuldigen, was sie dann auch tat. Sie erklärte dem Kind, daß es nichts mehr zu befürchten brauche, weil das Schlagen ohnehin verboten sei und sie etwas Unerlaubtes getan habe. Es stünde ihm das Recht zu, sich in einem solchen Fall zu beschweren, denn auch Lehrer könnten Fehler begehen.
    Mary ging wieder gern in die Schule, zeigte sogar von nun an Sympathie für diese Frau, die den Mut hatte, ihren Fehler einzugestehen. Das Kind wird sich gut gemerkt haben, daß die Emotionen der Erwachsenen von ihren eigenen Geschichten abhängen und nicht vom Verhalten der Kinder. Und wenn deren Verhalten und Hilflosigkeit starke Emotionen im Erwachsenen auslösen, dann müssen sich die Kinder nicht dafür schuldig fühlen, auch dannnicht, wenn die Erwachsenen versuchen, ihnen die Schuld aufzuladen (»ich habe dich geschlagen, weil du ...«).
    Ein Kind mit Marys Erfahrung wird sich nicht wie so viele Menschen für die Emotionen anderer verantwortlich fühlen, sondern nur für seine eigenen.

Das fiktive Tagebuch der Anita Fink
     
    Unter den vielen Briefen und Tagebüchern, die ich häufig erhalte, befinden sich zahlreiche Zeugnisse von grausamsten Mißhandlungen in der Kindheit, aber auch – eher selten — Berichte von Therapien, die den Verfassern ermöglichten, die Folgen der Traumen ihrer Kindheit aufzulösen. Manchmal werde ich darum gebeten, über diese Lebensgeschichten zu berichten, doch ich zögere in den meisten Fällen, weil ich nicht weiß, ob sich die betreffende Person in einigen Jahren immer noch gern in einem fremden Buch sieht. In einem Fall habe ich mich entschlossen, eine fiktive Erzählung zu schreiben, die aber auf Fakten beruht. Ich vermute, daß sehr viele Menschen eine ähnliche Quelle des Leidens in sich tragen, ohne die Chance einer erfolgreichen Therapie gehabt zu haben. Eine junge Frau, die ich Anita Fink nenne, erzählt hier über die Entwicklung in ihrer Therapie, die ihr half, sich aus einer der schwersten Erkrankungen, der Magersucht, zu befreien.
    Es wird im allgemeinen, auch unter Medizinern, nicht mehr bestritten, daß es sich hier um ein psychosomatisches Leiden handelt, daß die Seele »betroffen« ist, wenn ein (meistens junger) Mensch sein Gewicht so weit verliert, daß er in Lebensgefahr schwebt. Doch die seelische Verfassung dieser Menschen bleibt meistens in einem diffusen Licht. Meines Erachtens ebenfalls, um das Vierte Gebot nicht zu verletzen.
    Ich habe dieses Problem bereits in Evas Erwachen angedeutet, beließ es aber dort noch bei der Polemik gegen die gängige Praxis, deren Ziel bei der Behandlung der Magersucht die Zunahme an Gewicht ist, während die Ursachen der Erkrankung verschleiert bleiben. Diese Polemik will ich hier nicht fortsetzen, ich möchte statt dessen an einer Geschichte illustrieren, welche psychischen Faktoren zur Entwicklung einer Magersucht führen und durch welche Faktoren sie, wie in diesem Fall, aufgelöst werden kann. Der »Hungerkünstler« von Kafka sagt am Ende seines Lebens, er habe gehungert, weil er nicht die Nahrung finden konnte, die ihm schmeckte. Das könnte auch Anita gesagt haben, aber erst, als sie gesund wurde, weil sie erst dann wußte, welche Nahrung sie brauchte, suchte und seit der Kindheit vermißte: die echte emotionale Kommunikation, ohne Lügen, ohne falsche »Sorgen«, ohne Schuldgefühle, ohne Vorwürfe, ohne Warnungen, ohne Angstmacherei, ohne Projektionen – eine Kommunikation, wie sie zwischen der Mutter und ihrem gewünschten Kind in der ersten Phase des Lebens im besten Fall bestehen kann. Wenn diese nie stattgefunden hat, wenn das Kind mit Lügen gefuttert wurde, wenn Worte und Gesten lediglich dazu dienten, die Ablehnung des Kindes, den Haß, den Ekel, den Widerwillen zu verbrämen, dann sträubt sich das Kind, an dieser »Nahrung« zu gedeihen, lehnt sie ab und kann später anorektisch werden, ohne zu wissen, welche Nahrung es braucht. Diese kennt es nicht aus Erfahrung, es weiß also nicht, daß es sie gibt.
    Der Erwachsene kann zwar eine vage Ahnung haben, daß es diese Nahrung gibt, und mag sich dann in Eßorgien stürzen, wahllos alles mögliche in sich aufnehmen auf der Suche nach dem, was er braucht, aber nicht kennt. Er wird dann fettsüchtig, bulimisch. Er will nicht verzichten, er will essen, essen ohne Ende, ohne Einschränkungen.Aber da er wie der Magersüchtige nicht weiß, was et

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