Die Revolution der Ameisen
Morgen. Noch ist es dunkel, aber es wird schon warm. Das gehört zu den paradoxen Eigenschaften des Monats März. Der Mond wirft sein bläuliches Licht auf das Laubwerk.
Dieser helle Schein weckt die Ameise und verleiht ihr die nötige Energie, ihren Weg fortzusetzen. Seit sie allein in diesem riesigen Wald unterwegs ist, gibt es für sie wenig Ruhepausen. Spinnen, Vögel, Sandläufer, Ameisenjungfern, Eidechsen, Igel und sogar Gespenstheuschrecken verbünden sich, um ihr auf die Nerven zu gehen.
Von all diesen Sorgen wußte sie nichts, als sie noch dort unten lebte, in ihrer Stadt, zusammen mit allen anderen. Ihr Gehirn war damals auf ›Kollektivgeist‹ eingestellt, und es kostete sie keine persönliche Anstrengung, nachzudenken.
Doch nun ist sie fern von ihrer Heimat, fern von den ihren.
Ihr Gehirn muß sich auf ›individuelle Funktionsweise‹
umstellen. Ameisen besitzen die erstaunliche Fähigkeit, auf zweierlei Art funktionsfähig zu sein: im Kollektiv und als Individuum.
Im Augenblick hat sie nur die Möglichkeit, sich als Individuum zurechtzufinden, und ihr kommt es sehr mühsam vor, unablässig an sich selbst denken zu müssen, um zu überleben. Das führt auf Dauer dazu, Angst vor dem Tod zu haben. Vielleicht ist sie die erste Ameise, die ständig um ihr Leben bangt, weil sie allein lebt.
Welche Degeneration!
Sie eilt unter Ulmen dahin. Das Summen eines dicken Maikäfers veranlaßt sie, den Kopf zu heben. Wie herrlich doch der Wald ist! Im Mondschein wirken alle Pflanzen weiß oder malvenfarben. Sie richtet ihre Fühler auf und ortet ein Veilchen, auf dem sich Schmetterlinge tummeln. Etwas weiter fressen Raupen mit gestreiftem Rücken Holunderblätter ab. Die Natur scheint sich besonders schön gemacht zu haben, um die Rückkehr der alten roten Ameise zu feiern.
Sie stolpert über einen trockenen Kadaver, weicht etwas zurück und schaut genau hin. Vor ihr liegt eine ganze Menge toter Ameisen, spiralförmig angeordnet. Es sind schwarze Ameisen. Sie kennt dieses Phänomen. Die Ameisen hatten sich viel zu weit von ihrem Bau entfernt, und als der kalte Abendtau einsetzte, wußten sie nicht wohin, bildeten deshalb eine Spirale und drehten sich im Kreis, bis sie starben. Wenn man die Welt, in der man lebt, nicht versteht, dreht man sich bis zum Tod im Kreis.
Die alte rote Ameise streckt ihre Fühler aus, um die Katastrophe genauer zu untersuchen. Die Ameisen am Rand der Spirale sind als erste gestorben, die in der Mitte zuletzt.
Sie betrachtet diese seltsame Todesspirale im malven-farbenen Mondschein. Welch primitives Verhalten! Sie hätten doch nur unter einem Baumstumpf Schutz suchen oder ein Biwak in die Erde graben müssen, um sich gegen die Kälte zu schützen. Diesen törichten schwarzen Ameisen ist aber nichts Besseres eingefallen als sich im Kreis zu drehen, so als könnte Tanzen die Gefahr bannen.
Mein Volk hat wirklich noch sehr viel zu lernen, denkt die alte rote Ameise.
Unter Farnkraut erkennt sie die Gerüche ihrer Kindheit wieder. Der Pollenduft berauscht sie.
Es hat sehr lange gedauert, bis diese Perfektion erreicht wurde.
Zuerst sind die grünen Meeresalgen, die Ahnen aller Pflanzen, auf dem Kontinent an Land gegangen. Um dort Halt zu finden, haben sie sich in Flechten verwandelt. Die Flechten haben daraufhin eine Strategie der Verbesserung des Bodens entwickelt; sie erzeugten Erdreich, auf dem eine zweite Generation von Pflanzen gedeihen konnte, die dank ihrer tieferen Wurzeln höher und kräftiger wuchsen.
Seitdem besitzt jede Pflanze ihren Einflußbereich, aber es gibt immer noch Konfliktzonen. Die alte Ameise sieht eine Feigenbaumliane, die einen kühnen Angriff auf einen passiven Vogelkirschbaum unternimmt. Bei diesem Duell hat der arme Kirschbaum nicht die geringste Chance. Dafür verkümmern jedoch andere Feigenbaumlianen, die sich mit Sauerampfer angelegt haben, denn dessen Saft ist für sie ein tödliches Gift.
Etwas weiter verliert eine Tanne ihre Nadeln, um die Erde zu säuern, damit alle parasitären Gräser und kleinen Pflanzen vernichtet werden.
Jeder hat seine eigenen Waffen, seine eigenen Verteidigungs-und Überlebensstrategien. Die Pflanzenwelt ist gnadenlos. Der einzige Unterschied zum Tierreich besteht vielleicht darin, daß die Morde bei Pflanzen langsamer und vor allem lautlos vor sich gehen.
Manche Pflanzen ziehen blanke Waffen dem Gift vor. Man denke nur an die dornigen Blätter der Stechpalmen, an die Rasiermesser der Disteln, an die Angelhaken der
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