Die Revolution der Ameisen
der Rätsel liebte und die ›Denkfalle‹ selten verpaßte.
»Ach ja, und die sonst so gewitzte Frau hat die Lösung nicht gefunden. Wie sollen wir es dann schaffen?«
David riß eine Wurzel aus der Erde, zerteilte sie in sechs Stücke und drehte sie in alle Richtungen.
»Sechs Streichhölzer und acht Dreiecke … Das müßte machbar sein …«
Er spielte lange mit den Wurzelstücken herum und rief endlich: »Ich hab’s!«
Nachdem er Julie die Lösung erklärt hatte, gab er das Wort ein, und die Metalltür öffnete sich.
Dahinter war es hell, und da waren auch Menschen.
186. GEDÄCHTNISPHEROMON: HERDENTRIEB.
Registratorin Nr. 10 HERDENTRIEB:
Die Finger sind Herdentiere.
Sie ertragen es kaum, allein zu leben. Wenn es irgendwie möglich ist, scharen sie sich zu Herden zusammen.
Am schlimmsten zeigt sich diese Zusammenrottung an einem Ort, der ›Métro‹ heißt.
Dort drin ertragen sie, was keinem Insekt auf der ganzen Welt zu ertragen möglich wäre: Sie stehen so dicht zusammengedrängt, daß sie einander auf die Beine treten und sich nicht mehr bewegen können.
Das Phänomen der Métro wirft ein Problem auf: Verfügen die Finger über eine individuelle Intelligenz, oder werden sie durch visuelle oder auditive Weisungen zu diesem Herdentrieb gezwungen?
187. SIE WAREN DAS ALSO
Als erstes sah Julie das Gesicht Ji-woongs, dann nahm sie auch Francine, Paul, Zoé und Léopold wahr. Von Narcisse abgesehen, waren die ›Ameisen‹ komplett.
Alle lagen sich in den Armen, überglücklich, wieder vereint zu sein. Julie hatte nicht einmal etwas dagegen, daß man sie auf die heißen Wangen küßte.
Ji-woong erzählte ihre Abenteuer. Sie hatten Narcisse rächen wollen und in den Sträßchen in der Umgebung des großen Platzes nach den Schwarzen Ratten gesucht, die sich aber schon verdrückt hatten. Statt dessen waren sie selbst von der Polizei verfolgt worden, und es war ihnen nur mit großer Mühe gelungen, in den Wald zu entkommen. Dort war plötzlich eine fliegende Ameise aufgetaucht und hatte sie hierher gebracht.
Eine Tür öffnete sich, und eine kleine gebückte Gestalt trat ins Licht: ein alter Herr mit langem weißem Bart, der Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann hatte.
»Ed … Edmond Wells?« stammelte Julie.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Edmond Wells ist vor drei Jahren gestorben. Ich bin Arthur Ramirez.«
»Monsieur Ramirez hat uns die ferngesteuerten fliegenden Ameisen geschickt«, erklärte Francine.
Das junge Mädchen mit den hellgrauen Augen betrachtete ihren Retter. »Haben Sie Edmond Wells gekannt?«
»Ich kenne ihn genau wie Sie nur aus den Texten, die er uns hinterlassen hat. Aber kann man jemanden besser kennenlernen als durch das Lesen seiner Werke?«
Er führte aus, daß dieser Ort dank der Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens existiere. Es sei ein Tick von Edmond Wells gewesen, unterirdische Räume zu bauen und mit Türen auszustatten, die sich nur öffnen ließen, nachdem man ein Rätsel mit Streichhölzern und Dreiecken gelöst hatte; er habe Geheimnisse und Schätze am liebsten in Höhlen versteckt.
»Ich glaube, daß er im Grunde ein großes Kind war«, fügte der alte Mann schmunzelnd hinzu.
»War er es, der das Buch am Ende des Tunnels versteckte?«
»Nein, das war ich. Aus Respekt vor seinem Werk wollte ich ihn imitieren. Als ich den dritten Band der Enzyklopädie fand, habe ich ihn zunächst fotokopiert und das Original dann vor dem Eingang zu meiner Höhle versteckt. Ich war überzeugt, daß niemand den Koffer dort finden würde, aber eines Tages war er verschwunden. Sie hatten ihn gefunden, Julie, und deshalb mußten Sie nun die Fackel weitertragen.«
Sie standen immer noch in einem schmalen Vorraum.
»In dem Koffer war ein Minisender verborgen, und auf diese Weise konnte ich Sie leicht identifizieren. Seitdem haben meine Ameisenspione Sie ständig aus der Nähe oder aus der Ferne überwacht. Ich wollte wissen, was Sie mit der Enzyklopädie machen würden.«
»Ach, deshalb hat sich also eine Ameise auf meinen Finger gesetzt, als ich meine erste Rede hielt.«
Arthur lächelte wohlwollend. »Ihre Interpretation von Edmond Wells’ Gedanken war wirklich geistreich. Wissen Sie, dank meinen fliegenden Spionen waren wir hier über Ihre
›Revolution der Ameisen‹ bestens informiert.«
»Gott sei Dank, denn auf einen Fernsehbericht hätten Sie lange warten müssen«, sagte David bitter.
»Wir haben alles wie im Zeitungsfeuilleton verfolgt.
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