Die Risikoluege
Chemiekonzern Ciba-Geigy (heute Novartis), der bereit war, dies zu tun, genauer gesagt, es zu versuchen, denn Erfahrungen darüber, ob Dioxin ohne Umweltgefährdung verbrannt werden kann, gab es bislang nicht. Bei Ciba-Geigy hatte man einen Spezialofen für die Verbrennung von giftigen Chemikalien sowie den höchsten Schlot. Nach zwei Versuchsverbrennungen wusste man dann, dass eine Vernichtung des Giftes bei 1200 Grad möglich sei. In Einzelpackungen von je 2,5 Kilogramm wurde das Dioxin in hundert Stunden verbrannt.
Dioxin gilt als Inbegriff einer gefährlichen chemischen Substanz. Die Umweltkatastrophe von Seveso hat das hochgiftige Dioxin TCCD so berühmt gemacht, dass es heute auch Sevesogift genannt wird und Seveso zum Synonym für lebensbedrohliche Umweltverschmutzung, industrielle Schlamperei, unternehmerische Arroganz und kriminelles Verhalten wurde.
Seveso wurde aber auch zum Symbol für das Ende des Traums vom leichten und ungefährlichen industriellen Fortschritt – viele Jahre vor der Chemiekatastrophe im indischen Bhopal (1984) sowie dem Reaktorunglück von Tschernobyl (1986).
Die rechtlichen und gesetzgeberischen Folgen der Katastrophe
waren weitreichend. Allein die EU hat zur Verhütung schwerer Betriebsunfälle mit gefährlichen Stoffen und zur Begrenzung der Unfallfolgen zwei »Seveso-Richtlinien« erlassen, 1982 und 1999. Sie schlugen sich in Deutschland in der Störfall-Verordnung nieder, in Italien wurde das Recht auf Schadensersatz umgekrempelt.
Charles Perrow, Professor für Soziologie an der Yale-Universität in Princeton und einer der weltweit bedeutendsten Organisationssoziologen sagt in seinem Buch Normale Katastrophen – Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik: »Bei Unfällen wie diesem versagen einzelne Komponente, und die Risiken eines Bohrunfalls bei der Suche nach Erdöl, undichter Fässer mit hochgiftigen Abfällen und explodierender chemischer Reaktoren sind nicht nur vorhersehbar, sondern werden vermutlich auch bewusst einkalkuliert.«
Seveso war ein schweres Industrieunglück, dessen Folgen für Mensch und Umwelt glücklicherweise begrenzt blieben, aber doch so schwerwiegend waren, dass zu ihrer Aufarbeitung ein volles Jahrzehnt benötigt wurde.
Trostlos aber ist, dass man in so vielen Unternehmen hinsichtlich der Bewältigung von Zwischenfällen und Katastrophen in technischer wie kommunikativer Hinsicht so wenig gelernt hat und nach wie vor den Mut zu kriminellem Verhalten besitzt.
2
Abgeschaltete Kühlsysteme kühlen nicht
Die Chemiekatastrophe von Bhopal, Indien
2.12.1984
Bhopal, die Hauptstadt des flächenmäßig zweitgrößten indischen Bundesstaates Madhya Pradesh mit mehr als 60 Millionen Einwohnern, liegt zentral zwischen Delhi und Mumbai. Dort entwich in der Nacht vom 2. zum 3. Dezember 1984 aus einem Gastank der fünf Jahre alten Fabrikanlage der US-Firma Union Carbide hochgiftiges Gas.
Zum Zeitpunkt des Unglücks fand aufgrund von Überkapazitäten keine Produktion statt. Es wurden lediglich Wartungs- und Kontrollarbeiten durchgeführt. Um 23.10 Uhr hatte ein Kontrolleur in einem der Tanks für Methyl-isocyanat (MIC) erhöhten Druckbemerkt, die Gefahr aber nicht erkannt.
In den Tank war Wasser gekommen, ob durch ein defektes Ventil oder einen Riss im Tank ist unbekannt geblieben. Durch das Wasser kam es zu einer exothermen Reaktion, bei der so viel Kohlenstoffdioxid freigesetzt wurde, dass sich der Tankinnendruck stark erhöhte und schließlich zwischen 25 und 40 Tonnen Methylisocyanat, einer sehr reaktiven chemischen Verbindung, die zur Herstellung von Insektiziden verwendet wird, durch die Überdruckventile
nach außen entwichen. Der gesamte Tankinhalt verflüchtigte sich in weniger als zwei Stunden, über dem Firmengelände breitete sich ein beißender Geruch aus.
Eine hochgiftige Wolke legte sich über Bhopal, »gleich einem Leichentuch über 65 dicht besiedelte Quadratkilometer«, wie Der Spiegel eine Woche nach der Katastrophe schrieb. Tausende starben, ohne dass jemand die Menschen gewarnt hätte. »Als sie schließlich verflogen war, verbreitete sich der süßliche Geruch der Verwesung.« Es waren apokalyptische Zustände. Mitverantwortlich für die vielen Opfer war auch der Umstand, dass die meisten Betroffenen in Richtung der Fabrik und des Krankenhauses flohen, um Hilfe zu bekommen, dabei aber mitten in die Wolke hineingerieten. Katastrophenpläne für solche Situationen existierten nicht.
Methylisocyanat war nicht nur unter Wissen des
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