Die Rollbahn
…«
Südlich Prushanys, nach Linowo zu, lag an der Straße ein einsamer Bauernhof.
Es war ein typischer russischer Kotten, hingeduckt, mit flachem Strohdach, einem Ziehbrunnen, dessen Hebebalken wie ein einsamer, klagender Finger in den Winterhimmel starrte, ein paar Ställe mit windschiefen Türen, neben der Scheune eine Banja, ein halber, ausgehöhlter Baumstamm als Viehtränke und um einen Gemüsegarten ein wackeliger, gezimmerter Birkenzaun.
Ein Haus wie hunderttausend andere Häuser in der russischen Landschaft. Grau, verkommen, die Armut der Muschiks hinausschreiend. An der Tür hing noch ein Plakat der Kolchosenverwaltung mit einem Aufruf des Genossen Distrikt-Kommissars: Der Deutsche rückt vor. Jede Kolchose gibt seine Kühe in Prushany ab. Er darf behalten: vier Hühner, ein Schwein, zwei Gänse. 30. Juni 1941.
Kurz vor dem Zusammenbruch der sowjetischen Front unter den Panzerkeilen und Stukas der deutschen Angreifer.
Jetzt, dreieinhalb Jahre nach diesem Tag, lebten in diesem Haus noch immer der Bauer Igor Tscherasow, seine Frau Wanda Tscherasowa und seine Tochter Vera. Sie hatten alle Stürme überlebt, sie hatten hinter den deutschen Linien ihre kleinen Felder bebaut, sie hatten die Hühner vermehrt, die Gänse gezüchtet, sogar zwei Kühe hatten sie aufgetrieben.
Ab und zu hatte der Ortskommandant von Prushany, ein alter Reservehauptmann und Studienrat, einen Besuch bei den Tscherasows gemacht. Meistens brauchte er Eier oder Hühner für die Lazarettverpflegung, und der alte Igor gab sie ihm, so wie es sich gehörte, gegen Rubel oder Schokolade, die Wanda Tscherasowa so gern aß.
»Wenn ihr hierbleibt, Väterchen Offizier«, sagte der alte Igor einmal, »geht es uns gut. Wir können endlich wieder unseren eigenen Boden so bebauen, wie wir wollen! Bleibt ihr hier?«
»Aber sicher.« Der Ortskommandant sagte es damals mit tiefster Überzeugung. Die deutschen Divisionen standen bei Moskau … es war nur eine Frage der Zeit, wann der russische Koloß ausgeblutet zusammenbrach.
»Wenn ihr hier bleibt, Väterchen Offizier«, sagte der alte Igor in diesen Tagen zu seiner Wanda. »Der Genosse Kommissar wird uns nie verzeihen, daß wir hiergeblieben sind und die Deutschen beliefert haben. Sollen wir mit ihnen gehen, Wandaschka? Vielleicht nehmen sie uns mit, die Deutschen. Wir waren doch immer ihre Freunde.«
»Njet«, sagte die Tscherasowa. »Ich bleibe in meinem Haus. Ich gehe nicht weg von Mütterchen Rußland.«
»Sie werden uns quälen, Wandaschka. Sie werden uns wegschleppen nach Sibirien.«
»Ich will nicht nach Deutschland.«
»Sie waren immer gut zu uns.«
»Ich kann mit ihnen nicht leben. Laß uns bleiben, Igorowitsch.«
»Und wenn der Genosse Kommissar uns tötet?«
Die Tscherasowa schwieg. Sie ging in ihre Schlafkammer. In der Nacht schnitt sie sich die Pulsadern durch. Als es Vera merkte, jagte sie den Vater aus dem Stroh. Auf seinem alten, knöcherigen Panjegaul, den er auf der Rückzugsstraße der deutschen Armee auflas, ritt er wie der Teufel durch die Nacht und fiel vor dem Hauptverbandplatz Dr. Wensky in die Arme.
»Wandaschka stirbt!« schrie er. Es war, als brülle ein angeschossener Bär. »Hilf mir, Doktor! Hilf meiner kleinen Mamuschka! Sie hat sich die Arme aufgeschnitten … aus Angst vor dem Kommissar. Hilf mir, Doktor. Um Gottes willen, hilf mir …«
Er weinte und umklammerte die Hand Dr. Wenskys. Unterarzt Dr. Bohr kam hinzu und wäre von dem scheuenden Panjepferd fast umgerissen worden.
»Was ist denn hier los, Herr Stabsarzt?«
»Eine Russin hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Aus Angst vor den eigenen Leuten. Anscheinend hat der Bauer mit uns konspiriert.«
»Ich habe für Kommandantura, für Lazarett, für Truppe Hühner, Eier, Butter geliefert«, schrie Igor Tscherasow. »Nun hilf du mir, Doktor. Wandaschka verblutet …«
»Sie wollen doch nicht etwa hingehen, Herr Stabsarzt?« Dr. Bohr schüttelte den Kopf. »In der Nacht …«
»Was heißt in der Nacht, lieber Kollege? Die Nacht unterscheidet sich nur darin vom Tag, daß sie dunkel ist. Aber die Leiden bleiben die gleichen, die Patienten, die ärztlichen Pflichten.«
»Bei einer Russin …«
»Ist sie kein Mensch? Kein Patient, wenn man mich ruft?«
»Wir sind im Krieg, Herr Stabsarzt!«
»Schließt das die Humanität aus? Entbindet uns das von unserem Eid als Arzt, jedem an jedem Ort zu jeder Zeit zu helfen?«
»Aber Sie können doch nicht mitten in der Nacht in einer sowjetischen Bauernkate
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