Die rote Antilope
ob Herrnander überhaupt etwas von seinen Ausführungen verstanden hatte. Vorsichtig wiederholte er die Worte: Darlehen. Keine größere Summe. Für die Wissenschaft und den Jungen.
Herrnanders eine Hand fiel vom Rand der Couch herab. Bengler glaubte, es sei ein Ausdruck großer Müdigkeit. Aber dann sah er, daß es in einem Finger zuckte. Herrnander deutete auf eine Ledermappe, die am Boden lag. Bengler hob sie auf. Mit unendlich langsamen Bewegungen öffnete Herrnander sie und zog einen Packen Banknoten heraus. Als Bengler fragte, ob sie für ihn seien, nickte er. Bengler fing wieder von der Wichtigkeit von schriftlichen Vereinbarungen und Unterschriften an. Aber da stieß Herrnander die Mappe weg, so daß sie zu Boden fiel. Bengler bemerkte seine Gereiztheit. Er wollte keine Papiere aufgesetzt und unterschrieben haben. Neben dem Kissen hatte er eine Schiefertafel liegen. Er zog sie zu sich heran und krakelte langsam ein Wort darauf. Bengler las. Warum. Nichts sonst. Kein Fragezeichen, nur dieses eine Wort, warum. Bengler war sich sofort sicher, daß die Frage nicht dem Geld galt. Also bezog sich dieses Warum auf Daniel. Bengler berichtete in groben Zügen, was geschehen war, bevor er Daniel
in Anderssons Verschlag fand. Aber Herrnander bewegte unruhig den Kopf. Sein Warum war immer noch unbeantwortet.
Er möchte wissen, warum ich ihn mitgenommen habe, dachte Bengler. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Er sprach von der Notwendigkeit, Erbarmen zu zeigen, diese einfache christliche Botschaft, einen Mitmenschen in Not nicht wegzustoßen. Aber diese Worte schienen Herrnander eher noch mehr zu irritieren. Sogleich verzichtete Bengler auf die christlichen Argumente und beschwor statt dessen die Wissenschaft. Er würde eine Studie über Daniel anfertigen und zugleich beobachten, auf welche unterschiedlichen Weisen die Schweden auf die Begegnung mit diesem Fremden reagierten.
Herrnander stöhnte. Langsam strich er das Wort warum aus und ersetzte es durch ein neues. Bengler las: verrückt. Als er zu weiteren Erklärungen anhob, schloß Herrnander die Augen.
Das Gespräch war beendet. Bengler fühlte sich gekränkt. Was hatte dieser alte Mann, schon an der Schwelle zum Tod, für einen Grund, ihn zu kritisieren. Er steckte das Geld in die Tasche, zog das Taschentuch aus dem Schlüsselloch und öffnete die Tür.
Die Haushälterin kam ihnen aus dem Nebenzimmer entgegen.
- Sie sind viel zu lange geblieben, sagte sie ungeduldig. Jetzt wird er die ganze Nacht unruhig sein.
- Ich verspreche Ihnen, daß wir nicht wiederkommen werden, antwortete Bengler freundlich. Wir haben unser Anliegen vorgebracht.
Als sie auf die Straße hinaustraten, holte Bengler tief Luft. Dann sah er Daniel an.
- Jetzt haben wir das Wichtigste, was ein Mensch haben kann,
sagte er. Kapital. Du weißt nicht, was das ist. Aber eines Tages wirst du verstehen.
Daniel merkte, daß Bengler jetzt ruhiger war. Seine Augen irrten nicht mehr hin und her. Bengler strich Daniel über den Kopf.
- Heute nacht werden wir so wohnen, wie es uns geziemt. Wir werden ein erlesenes Mahl zu uns nehmen. Und wir werden im Grand Hotel wohnen.
Dann stellte er sich vor Daniel hin und deutete mit der ausgestreckten Hand in die Richtung, in die sie gehen mußten.
- Ich habe es die ganze Zeit gewußt, sagte er und lachte. Daß ich der geborene Heerführer bin. Auch wenn das Heer nur aus dir besteht.
Daniel verstand die Worte nicht. Aber er dachte, das Wichtigste sei doch, daß der Mann, der vor ihm ging, nicht mehr so unruhig war.
10
Sie bekamen ein Eckzimmer im zweiten Stock. Der Mann an der Rezeption hatte Daniel mit Unbehagen betrachtet, aber keine Fragen gestellt. Das Zimmer hatte schwere Samtvorhänge und roch stark nach Tabakrauch. Daniel schrak zurück, als er über die Schwelle trat. Bengler war es, als stiegen sie in eine muffige Krypta. Irgendwo in seinem Inneren rührte sich eine Scham darüber, daß Daniel in diesem schweren Tabakdunst würde schlafen müssen. Er zog die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. Daniel kam heran und stellte sich neben ihn. Er bekam Angst, als er sah, wie hoch sie sich über der Erde befanden. Bengler erkannte, daß für Daniel kein Zusammenhang bestand zwischen den Treppen, die sie hinaufgegangen waren, und der Höhe, auf welcher das Zimmer lag. Eine Treppe war für Daniel ein ansteigender Hang, nicht etwas, das den Boden weit unter ihnen zurückließ.
- Hier werden wir heute nacht schlafen, erklärte
Weitere Kostenlose Bücher