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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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vielleicht war es der Ast, der abgebrochen war, jedenfalls hatte er überlebt. Ein Halswirbel war angeknackst, und das hatte zur Folge, daß sein Kopf jetzt starr nach links zeigte, als hätte seine Seele eine Schlagseite bekommen, die nie mehr aufzurichten war. Er blieb an ihrem Tisch stehen. Bengler bemerkte, daß er stark betrunken war. Die Öse schuldete allen Leuten Geld. Als er Ende der 1840er Jahre aus Halmstad gekommen war, hatte er einem Gerücht zufolge ein Erbe gehabt, von dem er leben konnte. Die ersten Jahre hatte er auch regelmäßig die Vorlesungen an der Theologischen Fakultät besucht, aber dann war irgend etwas vorgefallen, was zu dem Baum und dem abgebrochenen Ast geführt hatte. Man munkelte, es habe sich um das Übliche geha ndelt, eine unglückliche Liebe. Aber niemand wußte es mit Sicherheit. Von diesem Tag an hatte die Öse in einem schäbigen Mansardenzimmer am Rand von Lund gehaust. Das Studium hatte er abgebrochen, er las nichts mehr, nicht einmal die Zeitung. Er schnorrte sich durch, konnte mitunter ein guter Geschichtenerzähler sein, aber meistens saß er versunken über seinem Glas und seinen Flaschen und führte gemurmelte Gespräche mit sich selbst, manchmal fuchtelte er mit den Händen, als würde er von Insekten belästigt, und dann konnte er wieder stumm dasitzen, bis er als letzter Gast hinausgeworfen wurde. Jetzt stand er also am Tisch.
    - Man hat von einer Expedition in eine entlegene Wüste reden hören, sagte er. Und man hat wohl nicht damit gerechnet, den Kandidaten zurückkehren zu sehen. Jetzt sitzt er hier, als sei nichts geschehen. Ein schwarzes Geschöpf hat er sich gegenüber am Tisch. Einen Jungen, der aussieht wie ein Schatten.
    - Er heißt Daniel, gab Bengler zurück. Wir sind nur auf der Durchreise.
    - Die Studien sollen also nicht wiederaufgenommen werden?

    - Nein.
    - Ich möchte nicht stören, fuhr die Öse fort. Aber der Kandidat, dessen Namen ich leider vergessen habe, könnte mir vielleicht ein kleines Darlehen von einem Zehner gewähren.
    Bengler fühlte in der Tasche nach und fischte zwei Zehner heraus. Das war zuviel. Aber die Öse hatte ihn immerhin erkannt. Die Scheine verschwanden in der Hand des andern, ohne daß er sich die Mühe machte nachzusehen, wieviel er bekommen hatte. Auch zu danken schien ihm nicht der Mühe wert.
    - Hier ist alles beim alten, sagte er. Die Ober kommen und gehen, genau wie die Kellner. Die Studenten werden jünger und jünger, das Wetter immer schlechter und das Wissen, das gelehrt wird, verdient immer weniger Respekt.
    Er erwartete keine Antwort, sondern drehte sich um und steuerte wieder auf seinen Tisch zu.

    Als die Orangencreme auf den Tisch kam, war Bengler betrunken. Er winkte den Ober heran.

    - Wäre es möglich, daß das Hotel für ein paar Stunden ein Kindermädchen zur Verfügung stellt?
    Er deutete auf Daniel.

    - Ich möchte mich eine Zeitlang im Rauchsalon aufhalten. Das ist keine passende Umgebung für ein Kind.

    Der Ober versprach, an der Rezeption zu fragen. Daniel hatte alles aufgegessen. Während der langen Überfahrt von Kapstadt hatte Bengler ihm beigebracht, mit Messer und Gabel umzugehen. Immer noch sah er, wie sehr Daniel sich anstrengen mußte, um zu tun, was er gelernt hatte. Aber er kleckerte nicht und schlang das Essen auch nicht herunter. Der Ober kam zurück.
    - Eines der Stubenmädchen könnte auf das Kind aufpassen.

    Bengler beglich die Rechnung und erhob sich. Er strauchelte. Daniel lachte. Er glaubt, ich spiele, dachte Bengler. Ein betrunkener Mensch ist jemand, der spielt, nichts weiter. Sie verließen den Speisesaal. Die Öse war verschwunden. Wieder verstummten die Gespräche nach und nach an den Tischen, an denen sie vorbeikamen. Noch einmal überkam Bengler der Drang, den Anwesenden etwas zu sagen. Aber was? Was konnte er ihnen eigentlich erklären? Oder hatte er das Bedürfnis, gewissermaßen um Entschuldigung zu bitten, weil er gegen eine unsichtbare Etikette verstieß, indem er einen schwarzen Jungen in einen öffentlichen Speisesaal mitnahm?

    Wie sich herausstellte, war das Mädchen, das auf Daniel aufpassen sollte, dasselbe, das zuvor das warme Wasser gebracht hatte.
    - Du brauchst nur hier zu sein, sagte Bengler. Du brauchst nicht zu reden, nicht zu spielen. Nur hier sein. Wie heißt du?

    - Charlotta.
    - Paß bitte auf, daß er nicht das Fenster öffnet, fuhr Bengler fort. Oder zur Tür hinausgeht. Ich bin unten im Rauchsalon.
    Daniel schien zu verstehen, was er gesagt hatte.

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