Die rote Antilope
sich beweisen ließ, was aus Beobachtungen herzuleiten war.
Zum Beispiel Daniel, fuhr er fort. Ich habe heute, am 2. September 1877, einen schwarzen Jungen aus der Wüste mit zwei Mädchen auf einem Hinterhof in der Stadt Simrishamn spielen sehen. Das ist der Ausgangspunkt für eine Reise, vielleicht könnte man es eine Expedition nennen, die von Daniel und einer Begegnung mit einem Land in Europa handelt.
In dieser Nacht schlief Bengler ruhig. In seinen Träumen bewegte sich das Bett, als befände er sich noch immer an Bord eines Schiffes. Hin und wieder wurde er wach und machte die Augen auf. In der hellen Sommernacht konnte er Daniels Gesicht sehr deutlich auf dem weißen Laken erkennen. Er schlief. Der Atem ging ruhig. Kurz vor drei stand Bengler auf, setzte sich neben Daniel und fühlte ihm den Puls.
Er schlug gleichmäßig, fünfundfünfzig Schläge pro Minute.
Nach einer beschwerlichen Reise kamen sie zwei Tage später durchgerüttelt in Lund an. Während der Fahrt hatte Bengler mehrmals Anfälle von Durchfall gehabt. Sein empfindlichster Körperteil war schon immer der Magen gewesen. Beim geringsten Zeichen von Unruhe hatte er stets rebelliert. Er erinnerte sich, daß das schon von klein auf so gewesen war: angefangen mit der Angst vor gewissen Lehrern an der Kathedralschule in Växjö bis hin zu den Jahren in Lund. Ohne daß er wußte, wieso, waren die Magenkrämpfe während der Zeit in der Wüste beinah verschwunden. Aber jetzt, da sie sich Lund näherten, kehrten die Schmerzen und die Krämpfe zurück. Daniel saß neben dem Bauern auf dem Kutschbock und durfte mitunter die Zügel halten. Bald lief er neben dem Wagen, bald vor den Pferden her. Bengler erkannte, daß etwas Entscheidendes mit Daniel geschehen war, als er auf dem Hinterhof in Simrishamn seilhüpfte. Noch immer sprach er nicht. Aber jetzt hatte er ein Lächeln im Gesicht, ein Lächeln, das von weit her kam, und Bengler dachte, er würde früher oder später schon verstehen, was das für ein Wunder gewesen war, das sich da auf dem Hinterhof ereignet hatte. Auch wenn es eine höchst plausible Erklärung gab, die in keiner Weise übernatürlich war, nämlich daß Daniel sich ganz einfach gefreut hatte, zwei gleichaltrige Kinder zu treffen, hatte Bengler den Verdacht, daß Daniels Reaktion auf einem fremden Fundament ruhte. Ein Raum, zu dem er auch weiterhin keinen Zugang besaß.
Kurz bevor sie in Lund ankamen, fing es an zu regnen. Es war ein kräftiges Gewitter, das heraufzog. Sie machten an einem baufälligen Wirtshaus halt und suchten Schutz vor dem Regen. Daniel wurde wie üblich begafft. Aber er schien es nicht zu merken. Nicht einmal, als ein betrunkener Bauernknecht sich neben ihn stellte und ihn anglotzte.
- Was zum Teufel ist das? fragte er. Was zum Teufel ist das?
Der Knecht stank nach Schmutz und Branntwein. Seine Augen waren rot.
- Er heißt Daniel, antwortete Bengler. Er ist Ausländer und zu Besuch in diesem Land.
Daniel warf einen Blick auf ihn und fuhr dann fort, von dem Wasser zu trinken, das er vor sich hatte.
- Was ist das für eine Art Tier?
- Das ist ein Mensch aus einer Wüste in Afrika, die Kalahari heißt.
- Was macht er hier?
- Er ist in meiner Gesellschaft unterwegs nach Lund. Der Knecht glotzte immer noch. Dann legte er Daniel seine kräftige Pranke ganz leicht und behutsam auf den Kopf.
- Hab noch nie was Derartiges gesehen, sagte er. Zwerge und Riesinnen und zusammengewachsene Siamesen auf Märkten. Aber so was nicht.
- Er ist hier, damit wir ihn sehen, gab Bengler zurück.
Menschen werden in verschiedene Formen gegossen. Aber mit demselben Inhalt.
Eine Stunde später, gegen fünf Uhr nachmittags, verzog sich das Gewitter. Die Fahrt zur Stadt ging weiter. Der Bauer, der sie umsonst hatte mitfahren lassen, setzte sie in der Nähe des Doms ab. Bengler hatte nichts als ein paar Kupfermünzen in der Tasche. Das Gepäck hatte er in Simrishamn gelassen, als Garantie dafür, daß er zurückkommen und die Rechnung begleichen würde. Er nahm Daniel mit zu den Bäumen neben dem Dom. Da die Erde feucht war, breitete er seine Jacke aus, damit sie darauf sitzen konnten.
- Was wir jetzt brauchen, ist Geld, sagte er zu Daniel. Was wir vor allem anderen brauchen, ist Geld.
Daniel hörte zu. Immer noch abwesend. Aber Bengler vermutete, daß er trotz allem angefangen hatte, einige Worte zu verstehen, ihren Inhalt zu begreifen.
- Bevor ich in die Wüste aufgebrochen bin, habe ich viele Dinge von einem Professor
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