Die rote Antilope
nach Schweiß. Er fragte, wie sie hießen, und verstand nur mit Mühe, was sie sagten. Die eine, die Magere, hieß Anna, und die Dicke hieß vielleicht Elin oder möglicherweise Elina. Bengler erklärte, der Junge neben ihm heiße Daniel, komme aus einer fernen Wüste in Afrika und sei gerade erst in Simrishamn eingetroffen.
- Was macht er hier? fragte das Mädchen, das Anna hieß.
Bengler blieb ihr die Antwort schuldig. Auf diese simple Frage wußte er plötzlich nichts zu erwidern.
- Er ist vorübergehend in Schweden zu Besuch, sagte er schließlich.
Er war sich unsicher, ob die Mädchen überhaupt verstanden, was er sagte. Er sprach einen ausgeprägten småländischen Dialekt.
- Wieso hat er so krause Haare? Hat er sie gekräuselt? Es war immer noch das Mädchen namens Anna, das fragte.
- Sie sind von Natur aus kraus, erwiderte Bengler.
- Darf man sie anfassen?
Bengler betrachtete Daniel. Er lächelte immer noch. Dann nickte Bengler. Vorsichtig näherten sich die Mädchen und berührten Daniels Kopf. Bengler war ständig auf der Hut, als würde er auf einen Hund aufpassen, der ohne Vorwarnung aggressiv werden und beißen könnte. Aber Daniel lächelte. Als das dicke Mädchen, das vielleicht Elin hieß, ihm die Hand auf den Kopf legte, streckte er selber die Hand aus und zog vorsichtig an ihren mausfarbenen Haaren. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und machte einen Satz zur Seite. Daniel lächelte weiter.
- Er möchte euch gern beim Seilhüpfen zusehen, sagte Bengler. Könnt ihr es ihm nicht zeigen?
Die Mädchen hüpften. Als die Dicke stolperte, fing Daniel an zu lachen. Es war ein heftiges Lachen, das tief aus dem Inneren aufstieg, ein aufgestauter Vulkan, der endlich zum Ausbruch kam.
- Kann er hüpfen?
Bengler nickte Daniel zu und deutete auf das Seil. Ohne zu zögern nahm Daniel es in die Hand. Er sprang federleicht, machte Doppelsprünge und schlug in raschem Tempo das Seil vorwärts und rückwärts. Bengler war völlig verblüfft. Er wäre nie darauf gekommen, daß Daniel Seilhüpfen konnte. Dieses Erlebnis erfüllte ihn mit Scham. Hatte er sich eigentlich vorgestellt, daß Daniel etwas anderes beherrschte als Schweigen und Verschlossenheit? Hatte er ihn nicht selbst eher als Tier betrachtet denn als Menschen?
- Er schwitzt ja nicht mal, schrie die Dicke.
Daniel hüpfte weiter. Und er schien nicht müde zu werden. Bengler überkam ein Gefühl, als würde Daniel nicht wirklich auf und ab hüpfen, sondern als sei er irgendwohin auf dem Weg, als würde er in Wirklichkeit rennen.
Er ist zurück in der Wüste, dachte Bengler. Dort ist er. Nicht hier, auf einem verdreckten Hinterhof in Simrishamn. Als das Spiel zu Ende ging, war Daniel nicht einmal außer Atem. Er gab das Seil zurück und faßte Bengler an der Hand. Auch das war noch nie vorgekommen. Bisher war es immer Bengler gewesen, der seine Hand nahm. Etwas ist geschehen, dachte Bengler. Von nun an wird sich etwas zwischen uns ändern. Was es sein wird, weiß ich jedoch nicht.
An diesem Abend, nachdem Daniel eingeschlafen war, fing Bengler ein neues Tagebuch an. Er entschied, daß es »Daniels Buch« heißen sollte und malte den Titel sorgfältig in Blockschrift auf den Deckel. Aus einem benachbarten Wirtshaus ertönte ein gewaltiger Lärm mit grölenden Stimmen und einer kreischenden Geige. Daniel schlief. Durch die dünnen Wände konnte Bengler hören, wie sich zwei Menschen im Nebenzimmer liebten. Er versuchte, die Geräusche zu verdrängen, aber sie waren laut, und er merkte, daß sie ihn erregten. Er versuchte sich die Körper vorzustellen, den Mann, der grunzte, und die Frau, die wimmerte, malte sich aus, das sei er selber da drinnen, zusammen mit Matilda oder Benikkolua. Nachdem er den Titel fertig geschrieben hatte, zog er die Hosen aus und onanierte. Er versuchte, dem Rhythmus des knarrenden Betts zu folgen und kam zum Orgasmus, als das Wimmern und Grunzen sich steigerte.
Dann fing er an zu schreiben. Es sollte eine Studie über die Begegnung zwischen Daniel und Europa werden. Der Ausgangspunkt waren eine ferne Wüste und ein verdreckter Hinterhof, in dem ein schwarzer Junge zusammen mit zwei Mädchen seilhüpft.
Was ist eigentlich ein Mensch? schrieb Bengler ganz oben auf die erste Seite. Diese Frage war nicht zu beantworten. Gott war unerreichbar, er war ein Rätsel, auf dieselbe Weise wie die heiligen Schriften Labyrinthe und Rätsel waren, die wieder neue Rätsel bargen. Die einzige Antwort, die es gab, war das, was
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