Die rote Antilope
Er saß auf der Bettkante und betrachtete Bengler.
Das Zimmer hinter dem Speisesaal war genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Der Tabakrauch, der unbeweglich in der Luft hing wie Nebel, der süße Duft von Punsch, das bleiche Licht der Petroleumlampen. Er stand in der Türöffnung und sah sich um. Ihm war, als kenne er alle Gesichter rings um sich her, obwohl ihm die Anwesenden sämtlich fremd waren. Ein Stuhl gleich neben einem der Fenster war noch leer. Er ging hin. Der Gedanke an Punsch sagte ihm nicht zu. Er bestellte Kognak. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte er sich frei. Daniel war eine Bürde. Er hatte sie selbst gewählt. Aber trotzdem war es eine Bürde. Hatte er überhaupt begriffen, welche Verantwortung er auf sich genommen hatte? Der Kognak trübte seine Gedanken. Das einzige, was er wußte, war, daß er Daniel mit nach Hovmantorp nehmen wollte. Anschließend würde er seine Wüstenfunde präsentieren und mit ihnen als Ausgangspunkt versuchen, seinen Unterhalt zu verdienen. Was das bedeutete, wußte er nicht. Er könnte herumreisen und Vorträge halten. Aber wer interessierte sich eigentlich für Insekten? Er bestellte ein weiteres Glas Kognak. In einer der dunkelsten Ecken des Raums saßen zwei Frauen und tranken zusammen mit einigen Studenten. Plötzlich sah er Matilda vor sich. Ein heftiges Verlangen ergriff ihn. Er war jetzt zurückgekommen. Matilda befand sich in der Nähe. Wenn sie noch lebte, wenn sie sich nicht nach Dänemark oder vielleicht nach Hamburg davongemacht hatte. Eine der Frauen auf dem Sofa stand auf. Sie war nicht schön, ihr Gesicht wirkte verlebt. Sie schlüpfte durch die Portiere hinaus. Bengler folgte ihr. Sie stand vor einem Spiegel und rückte ihren Hut zurecht.
Als er neben ihr stehenblieb, lächelte sie. Käuflich, dachte er. Es gab sie noch nicht, als ich von hier wegfuhr. Jetzt ist sie hier, von irgendwo ist sie gekommen, und sie ist käuflich. Auf die gleiche Weise wie Matilda einmal aus Landskrona nach Lund gekommen war, nachdem ihr Vater sich an ihr vergangen hatte.
- Ich suche eine Frau, sagte Bengler.
Sie lächelte. Allerdings mit zusammengepreßten Lippen. Bengler wußte, was das bedeutete. Sie hatte schlechte Zähne. Oder vielleicht die Syphilis, was man manchmal an der Zunge erkennen konnte.
- Ich habe schon einen Begleiter, sagte sie. Vielleicht an einem anderen Abend. Herren sind immer so unberechenbar. Der, der da drinnen sitzt, will mich heiraten. Aber was er morgen will, weiß niemand.
- Sie heißt Matilda, sagte Bengler. Matilda Andersson. Sie war früher mal meine Begleiterin. Dann bin ich zu einer langen Reise aufgebrochen. Nun bin ich wieder zurückgekommen.
Die Frau vor dem Spiegel war noch immer mit ihrem Hut beschäftigt. Bengler sah ihre Brüste unter der enga nliegenden Bluse. Er merkte, wie seine Erregung wuchs.
- Matilda ist ein gewöhnlicher Name. Genauso gewöhnlich wie meiner, Carolina. Beschreiben Sie sie mir.
Bengler wußte nicht, was er antworten sollte. Er könnte von ihrem nackten Körper erzählen, von der Form ihrer Brüste und ihren Schenkeln. Aber wie war sie eigentlich angezogen? Er versuchte nachzudenken. Aber er sah sie nur ohne Kleider.
- Ich kann nicht, sagte er. Sie hatte blaue Augen, braune Haare. Vielleicht waren sie von Natur aus gelockt, vielleicht mit der Lockenschere gekräuselt. Sie duftete säuerlich.
Die Frau war mit ihrem Hut fertig. Sie stellte sich dicht neben ihn.
- Wie dufte ich?
- Nach Lakritze.
- Vergiß sie. Morgen werde ich dir Gesellschaft leisten. Sie strich ihm flüchtig mit der Hand übers Gesicht. Er konnte sich nicht beherrschen und umfaßte ihre Brüste. Sie lachte auf, entwand sich ihm und verschwand wieder durch die Portiere. Bengler ging durchs Foyer und trat hinaus auf die Straße. Nach dem anhaltenden Regen hatte es sich abgekühlt.
Von irgendwoher hörte man ein Pferd wiehern. Er sah zum Eckzimmer hinauf, wo Daniel mittlerweile vielleicht eingeschlafen war. Das Verlangen nach einer Frau war jetzt sehr stark. Er dachte an Benikkolua. Warum hatte er sie nicht ebensogut mitnehmen können wie Daniel? Der Gedanke an die Frau vor dem Spiegel verursachte ihm plötzlich Übelkeit. An diesem kühlen Herbstabend überkam ihn Haß auf die Stadt, in der er sich befand. Wäre es nicht wegen des Geldes gewesen, wäre er nie zurückgekehrt. Matilda war nicht einmal eine Erinnerung, nur eine Luftspiegelung, ähnlich denen, die er in der Wüste gesehen hatte. Was gewesen war, gab es
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