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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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der Botanik gelernt, der Alfred Herrnander hieß, fuhr er fort. Er war ein guter Mann, ein alter Mann. Ihn möchte ich um ein Darlehen bitten. Wir können nur hoffen, daß er nicht tot ist, sondern noch unter den Lebenden weilt.

    Bengler hatte Herrnander einmal in dessen Wohnung nördlich des Doms besucht. Dorthin gingen sie jetzt. Menschen, an denen sie vorbeikamen, blieben stehen und drehten sich um.
    - Alle, die dich sehen, werden sich an dich erinnern, sagte
    Bengler. Heute abend werden sie ihren Familienmitgliedern erzählen, was sie gesehen haben. Du bist bereits eine Berühmtheit. Allein dadurch, daß du durch die Straßen gehst, wirst du zu einem sehr bekannten Menschen. Du wirst zum Ziel der Neugier, des Argwohns und leider manchmal auch der Böswilligkeit. Menschen haben Angst vor dem, was fremd ist. Und du bist fremd, Daniel.
    Sie blieben vor dem niedrigen grauen Haus stehen. Als die Tür von einer hinkenden Haushälterin geöffnet wurde, hatte Bengler es gerade noch geschafft, ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken, Herrnander möge noch am Leben sein.
    Das war er.
    Aber er habe letztes Jahr einen Schlaganfall gehabt, wußte die Haushälterin zu berichten.
    - Er empfängt keinen Besuch. Liegt nur da und zupft mit den Fingern an der Decke.
    - Mahlen seine Kiefer? fragte Bengler. Die Haushälterin schüttelte den Kopf.

    - Warum sollten sie das tun?
    - Ich weiß nicht. Es war nur eine Frage. Aber gehen Sie trotzdem zu ihm. Sagen Sie ihm, Hans Bengler steht hier auf der Straße. In seiner Gesellschaft hat er einen Jungen aus dem Sanvolk, Nomaden, die in der Kalahariwüste leben.

    - Wie soll ich mir das alles merken? All diese eigenartigen Worte?

    - Versuchen Sie es.
    - Warten Sie einen Moment.
    Sie schlug die Tür zu. Daniel zuckte zusammen. Bengler dachte, daß eine Tür, die fest genug vor einem Menschen zugeschlagen wurde, an einen Gewehrschuß erinnerte.

    Dann kam sie mit Papier und Bleistift wieder. Bengler schrieb. Sie bat ihn nicht herein.
    - Der Junge hat sehr empfindliche Ohren, sagte Bengler. Daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie die Tür nicht so fest zuknallen würden.

    Sie warteten. Als die Tür wieder aufging, hatte Bengler die Hoffnung schon fast aufgegeben.

    - Er empfängt Sie. Aber er spricht nicht, kann nur mit Mühe einzelne Worte auf die Schiefertafel schreiben.
    - Es reicht, wenn er zuhören kann.

    Herrnander lag in seinem Arbeitszimmer auf einer Couch aus dunkelrotem Plüsch. Die Vorhänge waren zugezogen, es war ein sehr niedriger Raum, muffig und stickig, mit Bücherregalen, die bis unter die Decke reichten, zahlreichen Farbtafeln und Stapeln von Manuskripten. Herrnander unter seinem Plaid wirkte wie ein Vogel. Auf einem Tisch neben der Couch standen eine Wasserkaraffe und eine braune Medizinflasche. Es dauerte eine Weile, bis er wahrnahm, daß sie ins Zimmer getreten waren. Er drehte langsam den Kopf, ließ den Blick über Bengler schweifen und richtete ihn dann auf Daniels Gesicht. Die Haushälterin, die mit ins Zimmer gekommen war, nahm ihren Beobachterposten an der Tür ein. Bengler strengte sich an, entschieden zu wirken, und wies sie mit einer Geste hinaus. Widerstrebend verschwand sie. Da sie die Tür einen Spalt weit offenließ, ging Bengler hin und schloß sie. Danach stopfte er ein Taschentuch ins Schlüsselloch und kehrte zu der Couch zurück. Um Herrnander nicht zu ermüden, faßte Bengler seine Reise mit so wenig Worten wie möglich zusammen. Die ganze Zeit betrachtete Herrnander Daniels Gesicht.

    Wie sollte er Herrnander überzeugen können, daß es angezeigt wäre, ihm ein kleines Darlehen zu gewähren, damit er beginnen könnte, seine Insektenfunde auszuwerten? Er wollte einen gelehrten Artikel über den Käfer schreiben, und er würde ihn seinem Mentor und Lehrer widmen. Aber um das zu verwirklichen, brauchte er ein Darlehen. Eine Summe, die ebensogut als Investition in den Fortschritt der Wissenschaft betrachtet werden könnte. Das Darlehen würde natürlich zurückgezahlt werden. Papiere würden aufgesetzt, Unterschriften beglaubigt werden. Alles würde seine Ordnung haben. Er brauchte dieses Darlehen unbedingt! Und außerdem gab es da noch den Jungen, dessen er sich erbarmt hatte. Daniel war sein Joker. Er hatte einen Menschen aus entlegenen Gegenden mitgebracht. Einen Menschen, für den er die Verantwortung übernommen hatte, eine Berühmtheit zum Vorzeigen.

    Als Bengler zu Ende geredet hatte, setzte ein langes Schweigen ein. Er fragte sich plötzlich,

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