Die rote Antilope
ANTILOPE
11
Es war Be, die ihn alles über Träume gelehrt hatte. Sie durchzogen die Menschen wie gewundene Spuren, doch waren diese Pfade nicht wie die Fußabdrücke, die sie in der Wüste hinterließen, sondern etwas in ihrem Inneren, in den Räumen, zu denen nur die Götter Zutritt hatten. Be war seine Mutter gewesen, ihr Lächeln war in ihn eingebrannt, obwohl das letzte, was er von ihr in Erinnerung hatte, das Blut war, das aus ihren Augen strömte, und der Schrei, der plötzlich abbrach.
Der Junge, der Molo hieß, lag wach an der Seite des Mannes, dessen Blick immer umherirrte. Er hatte seine Angst vor ihm verloren, die Angst, er könnte hinter seinem Rücken einen Speer verborgen halten, genau wie die Leute, die Be und Kiko getötet hatten. Gerade an diesem Abend war er außerdem lustig gewesen, hatte ihn beinah zum Lachen gebracht. Sie hatten in dem großen Zimmer gesessen und gegessen, und der Mann hatte etwas getrunken, was ihn dazu brachte, die Füße so zu bewegen wie damals an Bord des Schiffes. Was sich in den Flaschen befunden hatte, wußte er nicht. Aber er hatte es sich gemerkt. In diesem komischen Land, in dem die Sonne anscheinend niemals unterging, gab es die rollenden Wogen des Meeres in Flaschen. Er hatte sich die Etiketten eingeprägt für den Tag, an dem er wieder übers Meer fahren würde, um in die Wüste zurückzukehren.
Er lag ganz still im Bett. Noch hatte der Mann neben ihm nicht angefangen zu schnarchen. Er lag auf der Seite. Erst wenn er sich auf den Rücken drehte, würde das Schnarchen einsetzen. Molo lauschte ins Dunkel. Jemand lachte unten auf der Straße. Schuhe klapperten über die Pflastersteine.
Er dachte an all die Geräusche, die er in seinem Kopf
beherbergen mußte. In der Wüste waren die Schritte der Menschen nie zu hören. Manchmal pfiff Wind, aber die Füße bewegten sich stets lautlos über den Sand. Man konnte Stimmen über weite Entfernungen hören und das Röhren der Antilopenböcke, wenn sie das waren, was Be brünstig nannte und was bedeutete, daß sie Weibchen suchten, um sich mit ihnen zu paaren. Molo dachte an die Schuhe, die zu tragen er an Bord des Schiffes hatte lernen müssen. Klobig und schwer, aus Holz geschnitzt. Seine Füße hatten in den Schuhen geweint, sich nach innen gekrümmt wie Tiere, die bald sterben müssen, und er hätte gern gewußt, warum er nicht barfuß gehen durfte, wie er es gewohnt war. Seine Füße mochten die Schuhe nicht, und die Schuhe mochten seine Füße nicht. Deswegen hatte er einen davon ins Meer geworfen, um seine Füße und sich selbst zu trösten, aber auch um mitzuteilen, daß er zum Laufen nichts an den Füßen benötigte. Er wollte sich nicht dahinschleppen, nicht die Lust am Gehen verlieren. Aber das war ein Fehler gewesen. Es war das erste Mal, daß der Mann, der immer noch nicht schnarchte, böse geworden war. Seine Stirn hatte eine zusätzliche Falte direkt über den Brauen bekommen. Die Augen waren schmal geworden, und Molo hatte gedacht, jetzt würde er geschlagen, vielleicht selbst über Bord geworfen. Aber nichts anderes war geschehen, als daß er am nächsten Tag neue Schuhe bekommen hatte, die noch schwerer waren.
Da war ihm etwas eingefallen, was Kiko erzählt hatte, von den Sklavenkarawanen, die er einmal gesehen hatte, als er jung war und sich weit im Norden der Wüste aufgehalten hatte. Einmal hatte er hinter einem Felsen versteckt beobachtet, wie weiße Männer aneinandergekettete Menschen auspeitschten, lauter Schwarze, und sie zur Küste trieben. Als er zurückkam, hatte er es Be berichtet. Viel später, als Molo geboren war, hatte auch er die Geschichte erzählt bekommen. Diese Erinnerung war zurückgekehrt, als er gezwungen wurde, die Schuhe zu tragen, die ihm eine Last waren und ihm die Lust nahmen, sich zu bewegen.
Molo schlüpfte aus dem Bett und ging vorsichtig zur Tür. Er hatte viel Wasser zum Essen getrunken. Jetzt mußte er pinkeln. In der Wüste durfte man überall pinkeln, außer ins Feuer oder in der Nähe von Kiko, wenn er ein Tier häutete, oder dort, wo Be das Essen zubereitete. Aber hier war es anders. Auf dem Schiff hatte er an der Reling gestanden. Der Mann neben ihm hatte ihn immer festgehalten. Molo hatte sich gefragt, ob er so dumm war zu glauben, er würde sich über Bord werfen. Seit sie an Land waren, war das Pinkeln zu einem großen Problem geworden, ganz davon zu schweigen, wenn er das Schwere unter sich lassen mußte. Es gab spezielle Zimmer mit kleinen Holzkästen,
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