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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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auf die er sich setzen sollte. Einen solchen Holzkasten hatte er hier im Haus nicht gesehen. Er hatte begriffen, daß man pinkeln sollte, wenn niemand zusah, und zwar so, daß alle Spuren sofort verschwanden. Er stand nackt mitten im Raum und sah sich um. Auf einem Tisch stand ein Topf mit einer Palme. Er steckte den Finger hinein und roch daran. Die Erde war feucht und duftete nach Regen.
    Wenn er da hineinpinkelte, würde es bestimmt überlaufen, und der Mann würde böse werden, wenn er aufwachte. Die weiße Kanne, die vorher das Wasser enthalten hatte, war leer. Aber der Urin würde am nächsten Tag noch darin sein. Wenn er versuchte, zum Fenster hinaus zu pinkeln, würde der Mann sofort aus dem Schlaf auffahren und glauben, er hätte sich in einen Vogel verwandelt. Er ging zur Tür und öffnete sie behutsam. Eine Petroleumlampe hing im Flur an der Wand. Lautlos schloß er die Tür hinter sich. Das war noch etwas, was er gelernt hatte. Türen sollte man hörbar öffnen, aber lautlos zumachen. Der Flur war leer, und alle Türen waren geschlossen. Vorsichtig bewegte er sich über den weichen Teppich. Es war, wie auf Sand zu gehen, dachte er. Hinter einer Tür hörte er eine Frau weinen. Es klang wie Be, als sie ihr jüngstes Kind zur Welt brachte, das letzte, das sie geboren hatte, ehe die Männer mit den Speeren kamen und sie töteten. Er blieb stehen und pinkelte auf den Teppich. Der Stoff würde den Urin aufsaugen, genau wie der Sand. Da ging plötzlich eine der Türen auf. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und einem großem Hängebauch, der sein Geschlecht verbarg, kam heraus. Er hielt eine Flasche in der Hand. Als er Molo entdeckte, fuhr er zusammen. Dann fing er an zu brüllen. Molo versuchte, mit dem Pinkeln aufzuhören. Aber er war noch nicht fertig. Andere Türen wurden aufgerissen, ein Mann kam die Treppe heruntergerannt. Alle gafften ihn an. Noch immer konnte er den Strahl nicht unterbrechen. Er fragte sich, was daran so verkehrt war. Pinkelten die Kinder nicht in diesem Land? Dann hörte er hinter sich eine Tür gehen, es war der schlafende Mann, der aufgewacht war. Molo pinkelte, bis er fertig war.
    - Was zum Teufel machst du da? fragte der Mann aufgebracht. Stehst du hier und pißt auf den Teppich des Hotels?
    Molo verstand nicht, was er sagte, nur, daß er schon wieder etwas falsch gemacht hatte. Der Stoff unter seinen Füßen war nicht wie der Sand. Der Mann packte ihn am Arm, so fest, daß es weh tat, und schleppte ihn zurück ins Zimmer. Er setzte ihn aufs Bett. Molo begriff, daß er sich nicht rühren durfte. Der Mann verschwand wieder durch die Tür. Molo sah, daß er draußen jemandem Geld gab, der die Treppe heraufgerannt kam. Molo überlegte sich, daß er sich am besten zwischen die Laken legen sollte und so tun, als ob er schliefe.

    Der Mann kam herein und machte lautlos die Tür zu. Aber Molo wußte, daß er böse war, und kniff die Augen fest zusammen. Er spürte den Atem des Mannes dicht an seinem Gesicht. Er roch süßlich. Ohne die Augen zu öffnen, wußte Molo, daß der Mann jetzt überlegte, ob er ihn schlagen sollte. Sein Atem wurde immer säuerlicher, gefährlicher. Molo spannte sich an. Aber nichts geschah.
    - Verdammtes Balg, murmelte der Mann.
    Molo verstand die Worte nicht. Manchmal fand er, daß die Sprache, die der Mann benutzte, an das Geräusch einer Axt erinnerte, die altes, trockenes Holz spaltete. Oder es klang, wie wenn Kiko mit einem Ast gegen einen Felsen schlug, um festzustellen, ob es Hohlräume gab, in denen sich Schlangen versteckt halten konnten.
    Der Mann kroch ins Bett und seufzte. Molo wartete, bis sein Atem ruhig ging. Bald würde der Mann anfangen zu schnarchen. Molo schlug die Augen wieder auf. Er war müde. Was ihn morgen erwartete, wußte er nicht. Aber von Be hatte er alles über Träume gelernt. Sie waren nicht nur Verstecke, sie konnten auch erzählen, was geschehen würde. Molo suchte in den Bildern, die durch seinen Kopf strömten. Er hielt die Bilderflut an, als Kiko sich ihm offenbarte.

    Es war das letzte Mal gewesen, daß er Kiko zu den Felsen begleiten durfte, die aus dem Sand ragten und einem liegenden Löwen glichen. Er wußte, daß diese Berge heilig waren. Vor langer Zeit hatten die Götter einmal zwischen diesen Felsen gewohnt. Sie hatten ihre Feuer angezündet und dort gesessen, und als sie eines Abends satt und gut gelaunt waren, hatten sie beschlossen, ein Tier von neuer Art zu erschaffen, jenes, das später Mensch genannt wurde. Kiko

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