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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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diesen Büschen.
    Vater hustete lange, durchdringend und rasselnd. Dann wischte er sich mit dem schmutzigen Hemd das Gesicht ab.
    - Hier hat mein Vater gesessen, schrie er. Mein Vater. Kannst du mich verstehen? Mein Vater, der alte Bengler, der zu nichts taugte, hier saß er mit seinem verpfuschten Leben, den ganzen Körper voller Syphilis. Syphilis. Und in dieses Höllenloch habe ich mich zurückgesehnt. Als ich in der Wüste herumzog, habe ich mich hierher gesehnt. In den Träumen, wenn die Mücken mich stachen, habe ich mich hierher gesehnt. Kannst du das verstehen, Daniel? Kannst du verstehen?
    Vater redete sehr schnell. Daniel nahm an, er spreche eine Art Gebet.
    Bis in die Dämmerung hinein blieb Vater regungslos auf dem Stuhl sitzen. Insekten fingen an, aus Daniels Armen Blut zu saugen. Vater schlief ein. Daniel wartete.

    Bis Mitte Oktober blieben sie auf dem Hof in Hovmantorp. Mit einer Energie, die an Irrsinn grenzte, hatte Vater mit Hilfe der krummen Frau das verdreckte Erdgeschoß gesäubert. Im ersten Stock hatte Daniel ein eigenes Zimmer bekommen. Vater hatte ein Gitter aus Latten vor beide Fenster genagelt, und jeden Abend sperrte er die Tür zu. Bevor sie mit dem Saubermachen anfingen, hatten sie einen Kirchhof und ein Grabkreuz besucht. Daniel hatte verstanden, daß diejenigen, die tot dort lagen und deren Namen auf dem Kreuz standen, Vaters Eltern waren. Er hatte sich sehr über diesen Kirchhof gewundert, wo die toten Menschen in Reihen lagen, unter Steinen und Kreuzen. Die Toten wollten in Frieden sein, sie wollten nicht, daß irgendwelche Spuren von ihnen blieben. Zu einem Grab in der Wüste sollte man nicht zurückkehren, ehe man vergessen hatte, wo es lag. Das hatte Kiko ihn gelehrt. Hier war es umgekehrt. Außerdem hatte Vater sich an dem Grab sonderbar benommen. Er hatte geweint. Daniel verstand nicht, wieso. Um kranke oder von einem Tier verwundete Menschen konnte man weinen. Sie hatten Schmerzen. Aber die Toten waren nur ihres Weges gegangen.
    Die krumme Frau, die Leonora hieß, ha tte sich nach dem Auftritt des ersten Tages verändert. Sie kam Daniel nie nahe, faßte ihn nicht an, aber sie gab ihm zu essen und nähte ihm einen neuen Matrosenanzug. Außerdem schrie sie ihn nicht an, wenn er barfuß ging. Sie erlaubte ihm, sich mit den Hühnern, den Katzen, dem Kalb, dem Pferd und den Schweinen zu beschäftigen. Nachdem das Haus geputzt worden war und der Gestank allmählich verflog, packte Vater nach und nach seine Holzkisten aus. Daniel staunte über die vielen Insekten, die er mitgeschleppt hatte. Wozu brauchte er all diese toten Tiere? Ihm kam der Verdacht, daß Vater ein Zauberer war, daß er in einem besonderen Verhältnis zu den Kräften stand, die das Leben der Menschen lenkten. Konnte er mit den Toten sprechen? Daniel beobachtete ihn dabei, wie er die Insekten in verschiedenen Gruppen anordnete, sie auf Nadeln spießte und Kästen mit Glasplatten baute.

    Vater hatte jetzt auch ernsthaft angefangen, Daniel seine Sprache beizubringen. Jeden Morgen und jeden Nachmittag saßen sie in der Laube oder, wenn es regnete, in einem Zimmer im ersten Stock. Vater hatte große Geduld, und Daniel dachte, daß es ja nichts schaden würde, diese komische Sprache zu lernen. Er ließ die Äxte in seiner Kehle fallen, lernte die Worte und erkannte, daß es da etwas gab, was auch er begreifen konnte. Vater brauste nie auf, wurde nie zornig. Hin und wieder strich er Daniel über die Wange und sagte, er sei schnell von Begriff.

    Außer der Sprache sollte Daniel auch lernen, wie man Türen öffnet und schließt. Die praktische Übung fand an der Tür statt, die zu Vaters Arbeitszimmer führte. Da hatte Daniel schon angefangen, die Sprache zu verstehen.
    - Eine Tür ist genauso wichtig wie Schuhe, sagte Vater. Man hat Schuhe an den Füßen, um sich vor Kälte und Feuchtigkeit zu schützen. Aber man trägt die Schuhe außerdem, um seine Würde als Mensch zu zeigen. Tiere haben keine Schuhe. Aber Menschen. Dasselbe gilt für Türen. Man klopft an, bevor man durch eine Tür geht. Man tritt nicht ein, wenn man keine Antwort bekommt. Dann klopft man noch einmal, vielleicht ein wenig fester. Aber keinesfalls ungeduldig. Dann sollte man auch noch ein drittes Mal klopften, ohne die Beherrschung zu verlieren. Bitte, übe das. Anklopfen, Antwort abwarten, öffnen, einen Diener machen, die Tür hinter sich schließen.

    Daniel ging hinaus und schloß die Tür. Dann klopfte er an und öffnete sie.
    - Falsch, sagte

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