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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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schlug an. Da drinnen war es dunkel, genau wie in Anderssons Handelsstation und auf dem Schiff. Weiße Menschen leben in düsteren Räumen, dachte Daniel. Überall sind Türen, die geöffnet und geschlossen werden müssen, Wände, welche die Menschen daran hindern zu sehen, Decken, die schwer wie Felsblöcke über den Köpfen der Menschen hängen.
    Sie gingen in ein Zimmer, in dem ein einzelner Stuhl und ein
    Tisch vor einer grauen Wand mit gemalten Blumen standen. Vater setzte sich auf den Stuhl und ließ Daniel neben sich Platz nehmen. Der Mann, der sie empfangen hatte, verschwand unter einem schwarzen Tuch, das an der Rückseite von etwas hing, das einer Kanone glich. Kanonen hatte Daniel schon gesehen, in dem Jahr, bevor Kiko und Be und die anderen getötet wurden. Auf einer Wanderung durch die Wüste hatten sie weiße Soldaten entdeckt, die diese Waffen von Ochsen durch den Sand schleifen ließen. Daniel warf einen Blick auf Vater. Stand ihnen jetzt der Tod bevor? Vater bemerkte seine Unruhe.

    - Wir lassen uns nur fotografieren, sagte er.
    Vater lächelte und sagte etwas zu dem Mann unter dem Tuch, der lachte. Wir werden nicht sterben, dachte Daniel. Ich muß das alles ertragen, bis ich eine Möglichkeit finde, nach Hause zurückzukehren. Ich werde an die Antilope denken, die sich jederzeit von der Felswand lösen und eine Beute werden könnte, die wir erlegen würden, um dann von ihr zu leben. Ich werde warten, bis ich denselben Sprung machen kann wie die Antilope. Oder bis ich merke, daß aus meinem Rücken Flügel wachsen.
    Es blitzte. Daniel duckte sich. Aber Vater lächelte nur. Einen kurzen Moment fürchtete Daniel, daß Vater seine Gedanken lesen könnte. Aber er hatte sich vom Stuhl erhoben und redete weiter mit dem Mann, der sich unter dem Tuch versteckt und den Schuß abgefeuert hatte, der sie nicht traf.

    Später am Nachmittag kehrten sie in das Geschäft zurück. Sie blieben vor dem Fenster stehen. Daniel sah sein eigenes Gesicht da drinnen. Es starrte direkt in die Mündung der Kanone.

    Ich erkenne mich nicht, dachte er. Meine Augen sind wie die eines anderen Menschen. Der Mann, der sich unter dem Tuch versteckte, hat einen Schuß auf mich abgefeuert, der so ähnlich war wie der, der Kiko den Kopf in Stücke gerissen hat.
    Auch ich bin tot.
    Ich habe es nur noch nicht gemerkt.

    12

    Es dauerte eine Weile, bis Daniel begriff, daß der schreckliche Ort, an den sie gekommen waren, die Stelle auf Erden war, wo Vater geboren wurde. Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, in der er die Kanonenmündung auf sein Gesicht gerichtet sah, fuhren sie gute drei Wochen lang durch endlose Wälder. Vater hatte ein Pferd und einen Wagen gekauft, aber Daniel merkte sehr bald, daß er nicht wußte, wie er mit dem Pferd umgehen sollte, das meistens machte, was es wollte. Es regnete fast während der gesamten Reise. Der Wagen war offen, und Daniel lag unter etwas, das einem Stück Segeltuch glich, zusammen mit den Kisten, in denen Vater seine Insekten, seine Bücher und seine Instrumente verwahrte. Von dem vielen Regen hatte Vater Fieber und schweren Husten bekommen. Sie waren zu einem zehntägigen Aufenthalt in einer Stadt namens Växjö gezwungen, wo Vater bettlägrig war und stark schwitzte, in einem Haus, das Gasthof genannt wurde. Daniel kühlte ihm mit feuchten Tüchern die Stirn, gab ihm Wasser zu trinken und war mehrmals fest davon überzeugt, daß Vater sterben würde. Ein Medizinmann in einem dunklen Mantel besuchte ihn und betrachtete Daniel mit großer Neugier. Er gab Vater eine Flasche, aus der er trinken sollte, wenn der Husten sich verschlimmerte. Jedesmal, wenn er Vater besuchte, verlangte er, daß Daniel sich nackt ausziehen sollte. Dann tastete er seinen Körper ab, sah ihm in den Mund, zählte seine Zähne und schnitt ihm ein Büschel Haare ab.
    In diesen Tagen freundete sich Daniel mit dem Pferd an. Falls Vater sterben sollte, wäre das Pferd das einzige, was ihm blieb.
    In der Zeit von Vaters Krankheit ereignete sich etwas Sonderbares. Vater hatte im Fieber heftig phantasiert, aber zum erstenmal hatte Daniel begriffen, was er sagte. Von der Sprache, in der er früher nur einzelne Worte hatte zuordnen können, hatte er plötzlich ganze Sätze verstanden. Wenn Vater phantasierte, verstand Daniel, was er sagte. Es war, als ob er direkt in Vaters unruhige Träume hineinschaute, und erst da bekamen die Worte einen Sinn.
    Noch immer fiel es ihm schwer, sich an den neuen Namen zu gewöhnen, den er

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