Die rote Schleife
Die Räder knirschten auf dem Kies. Mit einem Ruckeln kam der Wagen zum Stehen. Maximilian nahm die Handtasche und gab sie seiner Mutter. Die Blutwerte steckten in einem Umschlag im Seitenfach der Tasche, die hatte er mitnehmen sollen.
Die Klinik war ein großer grauer Betonklotz. Alles wirkte riesig und ließ einen schwindeln. Diese Klinik war ihm von vornherein unsympathisch.
Sie irrten durch lange Gänge, mussten zweimal fragen, weil sie sich in dem Gebäudekomplex verlaufen hatten. Schließlich fanden sie die Ambulanz. Am Ende eines unendlich langen Flures öffnete sich fast torbogenartig die Wand. Eine große Rote Schlaufe hing von dem I des Wortes „Infektionsambulanz“ herab.
„Da gehe ich nicht rein.“ Maximilian blieb stehen.
„Was soll denn das jetzt schon wieder?“ Seine Mutter klang verärgert.
„Wenn ich hier durchgehe, weiß doch jeder, dass ich krank bin.“
„Aber es kann doch allesMögliche sein. Weißt du, wie viele Infektionskrankheiten es gibt?“
„Und die Rote Schleife da oben? Die steht doch für Aids!“
„Ja und? Aber nicht jeder hier hat Aids. Außerdem, was bedeutet diese Rote Schleife denn? Es ist doch nur ein Symbol!“
Widerstrebend folgte Maximilian seiner Mutter, die unter dem Bogen hindurchgelaufen war und schnurstracks zur Anmeldung lief. In sicherem Abstand vor der Dame hinter der Anmeldung blieb Maximilian stehen. Je weniger Menschen ihn tatsächlich wahrnahmen, desto besser. Unerkannt zu bleiben, konnte manchmal sehr wertvoll sein.
Das Wartezimmer war fast voll. Genau zwei Stühle waren noch frei. Maximilian nahm neben einem jungen Mann Platz. Was der wohl hier wollte? Von der Seite versuchte er, den Mann zu mustern. Ein seltsamer Ohrring zierte sein linkes Ohrläppchen, das eigentlich nicht mehr vorhanden war. Es war vielmehr ein ausgestanztes Loch mit schwarzem Rand.
Ihre Oberarme berührten sich, Haut an Haut. Maximilian zuckte zusammen und drückte seinen Arm möglichst dicht an den Oberkörper. Er begann zu schwitzen. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Was nur hatte der Mann für eine Krankheit, dass er diese Ambulanz aufsuchte? Auch HIV? Oder irgendetwas anderes? Etwas, das sich doch über einen einfachen Hautkontakt übertrug? Maximilians Schweißtropfen liefen ihm in einemRinnsal die Wirbelsäule entlang hinunter.
„Ich muss mal!“, sagte er zu seiner Mutter und verließ eilig den Raum. Seine Gedanken überschlugen sich. Wer hatte vor ihm auf dem Stuhl gesessen? Hatte er die Türklinke berührt oder seine Mutter? Womit hatte er sich möglicherweise kontaminiert?
Zitternd schlich er durch einige Gänge, bis er die Toiletten gefunden hatte. Mit dem Ellbogen drückte er die Klinke nach unten und stieß gleichzeitig mit der Schulter gegen die Tür, die mit einem Ruck nachgab. „Verdammte Erreger“, fluchte er in sich hinein. Dann nahm er sich einen großen Klecks Seife aus dem Spender und wusch sich Hände, Ellbogen und Oberarm minutenlang. Seine Haut glühte fast rot, als er sich mit einem Papierhandtuch abtrocknete.
Im Spiegel beobachtete er sein Gesicht. Er blickte in ausdruckslose und leere Augen. Einige Tränen bildeten sich und liefen ihm die Wangen hinab. Was hatte er da gerade nur getan? Er selbst trug ein schreckliches Virus in sich. Und da verdächtigte er einen anderen in genau der Weise, wie er selbst nie verdächtigt werden wollte!
Zu Hause hatte Maximilian Jana nur kurz zu verstehen gegeben, dass er sie nicht verpetzt hatte. Die Spannung, die zwischen ihnen in der Luft lag, war sogleich verflogen. Jana wirkte erleichtert. Dann war Max inseinem Zimmer verschwunden und hatte seinen Rechner hochgefahren. Die Rote Schleife! Er wusste noch immer nicht, was sie eigentlich bedeutete. Auch die junge Ärztin in der Infektionsambulanz hatte ihm die Symbolik nicht mal ansatzweise erklären können. Max fand das seltsam. Wie konnte man ständig mit HIV-positiven Menschen zusammenarbeiten und nicht mal die Bedeutung der Roten Schleife kennen? Er würde es jedenfalls herausfinden. Der Ärztin hatte er nämlich versprochen, beim nächsten Mal Bescheid zu wissen.
Zumindest hatte sie ihn so weit beruhigen können, dass er zunächst ein ganz normales Leben führen durfte. Max durfte Sport treiben, abends ausgehen und auch die Klassenfahrt im Sommer stand nicht auf der Kippe. Denn HIV–positiv war nicht gleich Aids. Das hatte er nicht sofort verstanden, aber die Ärztin hatte es ihm genau erklärt. Jetzt war er positiv, aber krank war er
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