Die rote Schleife
er zu einem anderen Zeitpunkt herausfinden. Er hatte genug für heute.
9.
„Maximilian, kommst du mal bitte?“ Die Stimme seiner Mutter klang gedämpft durch seine Zimmertür. Er hatte nur seinen Namen verstanden, der Rest war nur ein leises Murmeln. Sowieso waren seine Gedanken momentan woanders. Morgen würde er nach zweiwöchiger Pause wieder in die Schule gehen. Und er hatte gehörig Bammel davor. Ahnten die anderen schon etwas? Wie würde Leon reagieren, wenn sie wieder nebeneinander in der Klasse saßen? Falls er sich nicht schon woanders einen Platz gesucht hatte. Er mochte lieber nicht daran denken. Sein Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung. Wahrscheinlich musste er den Rest der Schulzeit alleine verbringen. Auf einem Stuhl abseits der anderen. Selbst die Lehrer würden ihn meiden, wenn sie seine Erkrankung spitzgekriegt hatten.
„Was ist denn?“ Maximilian klang genervt.
„Komm doch einfach mal. Du wirst es schon nicht bereuen.“
Maximilian ging den Flur entlang. In dem großen Spiegel erhaschte er einen Blick auf sein Gesicht. Die Haare standen wild durcheinander. Kinn und Oberlippe waren von einem hellen Flaum bedeckt. Die nächste Rasur war dringend fällig. Einen Meter vor der geöffneten Haustür blieb er abrupt stehen. Im Flur, nur wenige Zentimeter von der Schwelle entfernt, stand Leon. Zunächst starrten sich beide stumm an.
„Darf ich reinkommen?“, fragte Leon schließlich.
„Klar Mann, was für eine Frage. Außerdem bist du schon längst drin.“
„Stimmt.“ Leon schlüpfte ausseinen Schuhen und trat einen Schritt auf Maximilian zu. Er hielt ihm die Handfläche hin. Maximilian zögerte nur einen kurzen Moment, dann schlug er bei Leon ein. So, als ob nie etwas zwischen ihnen gewesen wäre. Er schlang seinen Unterarm um Leons Hals und drückte ihn kurz gegen seine Schulter.
„Sorry du!“ Leon murmelte die Worte fast. „Verschwinden wir in deinem Zimmer.“ Dann ging er voraus und Maximilian hinter ihm her. Kaum waren sie im Zimmer verschwunden, platzte es aus Leon heraus. „Ich war ein Riesenidiot. Tut mir echt leid, wie scheiße ich mich angestellt habe.“
Maximilian winkte ab. „Halb so wild.“ Wie schlecht er sich gefühlt hatte, konnte er einfach noch nicht zugeben. „Woher dein plötzlicher Wandel?“
„Ich hatte doch keine Ahnung, von wegen HIV, Aids und dem ganzen Kram. Erst habe ich ’ne Weile im Internet gesurft, aber dann brummte mir nur der Kopf. Da standen lauter widersprüchliche Sachen. Schließlich habe ich bei der Aidshilfe angerufen. Die Frau am Telefon hat mir dann die Augen geöffnet. Ich dachte, das sei super ansteckend. Kannst du dir vorstellen, was ich für Panik hatte, als ich von deiner Flasche getrunken hatte? Mensch, ich habe zwei Nächte nicht geschlafen. Ein Albtraum jagte den anderen. Eiternde Blasen, aufgequollene Augen. Ich sah mich in meinen eigenen Exkrementen sitzenund dahinsiechen. Ich war echt am Ende. Aber jetzt ist es okay, Mann.“
„Dann hast du ja eine Ahnung von dem, was ich so gerade durchmache.“ Maximilian blickte seinem Freund fragend in die Augen.
„Oh nein!“, antwortete Leon, der blitzartig begriff, wovor Maximilian so viel Angst hatte. „Ich habe geschwiegen wie ein Grab. Ich war echt nicht cool drauf, aber darauf kannst du dich verlassen. Bin doch keine Petze.“
„Danke“, sagte Maximilian.
„Wie geht’s weiter? Hast du schon einen Plan?“
Der Damm war gebrochen. Maximilian und Leon tauschten sich über die letzten Wochen aus und erzählten einander jedes Detail. Die Freundschaft, die auf der Kippe gestanden hatte, war wieder gekittet.
„Es wird keiner merken und wenn doch, dann schiebst du halt den Blutkrebs vor. Aber selbst das muss ja keiner wissen.“
„Ich hoffe nur, dass Doro verschont bleibt. Das würde sie mir nie verzeihen.“
„Jetzt halt mal die Luft an. Du bist ja nicht schuld an ihrer Misere.“
„Ach nein? Wenn, dann hat sie es doch von mir.“
„Du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Sie hat mit dir geschlafen, bewusst und ohne Schutz. Die meiste Schuld trägt sie alleine. Es wäre vielleicht anders, wenn du von deiner Infektion gewusst hättest.“
„Ist das nicht ein wenig einfach, so zu denken?“
„Nein, ist es nicht. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.“
„Also trifft auchLydia keine Schuld, sondern mich? Ich meine, dass ich krank bin?“
„Na endlich ist der Groschen gefallen. Du machst Lydia keinen Vorwurf und Doro macht dir
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