Die rote Schleife
einen saftigen Kuss auf die linke Wange. Die Haut färbte sich dort rosa. Frau Dr. Scherlein lächelte nur.
„Muss ich jetzt noch irgendetwas beachten?“, keuchte Dorothee schließlich, als sie außer Atem vor ihrer Ärztin stehen blieb.
„Nein, das Testergebnis bedeutet jetzt tatsächlich Entwarnung. Dieses Mal hattest du Glück. Vielleicht sogar mehr als das.“
„Kann ich eine Kopie hiervon bekommen?“, fragte Dorothee. Frau Dr. Scherlein erhob sich aus ihrem Stuhl und verschwand kurz aus dem Zimmer, um mit einer Kopie des Testergebnisses zurückzukehren.
„Pass auf dich auf. Und entlaste deinen Freund möglichst bald. Es wird auch ihmguttun, hiervon zu erfahren.“
„Meinen Ex-Freund“, korrigierte Dorothee, „aber ich werde es ihm gleich sagen.“ Sie steckte das Papier in ihren Rucksack und verließ innerlich jubelnd das Zimmer. In diesem Moment glaubte sie, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Wegen eines Stückes Papier.
13.
Maximilian schaute ihr lange hinterher. Erst, als Dorothee schon seit Minuten nicht mehr zu sehen war, drehte er sich vom Fenster weg und starrte auf den Boden. Er war froh, nein, überglücklich, dass sie sich nicht mit HIV angesteckt hatte. Ein ganzes Gebirge war von seinem Herzen gefallen. Max hatte es sofort gewusst, noch ehe Dorothee auch nur ein Wort über die Lippen gekommen war. So etwas konnte man erahnen, erfühlen. Diese Wahrheit lag zwischen einem in der Luft, sie musste nicht ausgesprochen werden, damit man sie hörte.
Dorothee war nicht lange geblieben, nur wenige Augenblicke. Sie hatte ihm das schriftliche Ergebnis unter die Nase gehalten, ihn kurz gedrückt und war dann in ihr von den Fesseln der vergangenen Monate befreites Leben zurückgekehrt. Maximilian war sich nicht sicher, ob ihr schnelles Verschwinden vielleicht doch daran lag, dass er als Einziger krank war. Hatte HIV ihn stärker in die Isolation getrieben, als er bisher angenommen hatte? Außer Leo wusste niemand sonst davon. Und Leo hatte dichtgehalten, ganz sicher. In der Schule hatte keiner Verdacht geschöpft. Der Alltag war bestimmt von dem Gerede über Mädels, wer wann wie viel gesoffen hatte oder wer wieder einen Joint zur nächsten Party besorgen wollte. Max schloss sich diesem Gequatsche immer an, obwohl es ihn nicht mehr die Bohneinteressierte. Über Krankheiten war nie ein Wort gefallen. Selbst auf seine längere Fehlzeit hatte ihn niemand angesprochen. „Wieder fit?“, hatte Julius, ein Kumpel, lediglich gefragt. Sonst schien es uninteressant zu sein. Maximilian war froh darüber. Er war sicher noch nicht so weit, seine Krankheit vor der gesamten Menschheit zuzugeben. Wenn er es denn je sein sollte.
Max dachte wieder an Doro. Hätte er sich an ihrer Stelle ähnlich verhalten? Könnten die Ängste, sich anzustecken, doch in den Vordergrund treten? Wäre die Vernunft und alles Wissen um die Krankheit mit einem Mal ausgeblendet, wegen eines minimalen Risikos? Maximilian würde es wohl nie erfahren.
Trotz seiner Freude über Dorothees Testergebnis war Maximilian traurig. Mit einem Mal fühlte er eine Enge in seinem Zimmer, als ob sich alle Wände auf ihn zubewegten. Mit dem einzigen Ziel, ihn zu zerquetschen. Im Vorbeilaufen schnappte er sich seine Jacke von der Kommode, verließ das Haus und ging durch die Straßen spazieren. Jetzt brauchte er Luft.
HIV war für ihn so unwirklich. Eigentlich war er gesund, er fühlte nichts, war fit wie eh und je und er musste nicht mal Medikamente einnehmen. Okay, die Ärztin in der Ambulanz hatte ihm klargemacht, dass dies nicht für immer so bleiben würde. Vielleicht musste er schon bald Medikamente einnehmen, was ihn vor ein neues Problem stellen konnte. Denn das zu verbergen würde unmöglich sein. Aber noch war es nicht so weit.
Maximilian bliebstehen. Gedankenverloren war er in eine Sackgasse gelaufen und stand jetzt vor einer Mauer. Sie war zu hoch, um einen Blick auf die andere Seite zu gewähren. Ja, sein Leben stand auch vor so einer Mauer. Was lag dahinter? Welche Entscheidungen musste er später treffen? Welche Wege würden sich ihm auftun? Und welchen Weg würde er dann wählen? Nur eine Antwort machte ihm wirklich Mut: Hinter der Mauer war sicher ein Weg für ihn. Und es lag an ihm, diesen Weg zu gehen.
Obwohl Maximilian es besser wusste, desinfizierte er zu Hause jedes Mal die Toilette. Alle Ärzte und alle Informationsbroschüren hatten mehrfach betont, dass der Alltag mit einem HIV-positiven Menschen ungefährlich sei.
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