Die rote Schleife
dir!“ Dorothee dachte voller Dankbarkeit an ihre Eltern.
„Und deine Schwester?“, wollte Maximilian wissen.
„Die weiß es noch nicht. Wir haben beschlossen, erst mal das Ergebnis in drei Monaten abzuwarten. Es reicht, wenn ich schon nicht mehr schlafen kann. Weißt du, dass ich jede Nacht Albträume habe? Ich wache schweißgebadet auf, kann danach kein Auge mehr zumachen. Immer muss ich denken, dass das Schwitzen auf meine mögliche Infektion zurückzuführen ist. Und am Morgen bin ich dann todmüde. Das macht mich so alle, ich kann manchmal kaum noch gerade stehen.“
„Neulich habe ich mitbekommen, wie du in Reli eingedöst bist.“
„Kein Wunder, ich könnte nur noch schlafen. Aber beim Schlafen sind meine Gedanken so lebendig, da bekomme ich die meiste Angst.“
„Ich habe auch Angst!“
Dorothee nickte. „Klar!“
„Aber zum Glück habe ich mich mitLeo wieder versöhnt.“
„Echt? Wann das?“
„Er war gestern hier und er war echt cool drauf. Weißt du, Leo ist ein wirklich guter Freund. Er würde mich nie im Stich lassen.“ Das war gut, sehr gut, dachte Max. Dorothee würde beeindruckt sein, obwohl er das eigentlich gar nicht hatte so betonen wollen. Aber es schien ihm nun die einzige Möglichkeit: Wenn Dorothee wirklich vorhatte, sich von ihm zu trennen, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als sie moralisch unter Druck zu setzen. Er war sich sicher, dass ohne moralische Verantwortung kein Blumentopf mehr zu gewinnen war.
„Max, wir müssen reden!“ Dorothees Stimme klang plötzlich ernst.
„Das hast du vorhin schon gesagt.“
„So können wir nicht weitermachen. Ich meine, ich habe kein Problem damit, dich zu berühren oder sonst wie anzufassen. Aber küssen geht gar nicht mehr. Und alles andere sowieso nicht. Wenn du ehrlich bist, müsste dir das doch klar sein, oder?“
Maximilian schwieg. Natürlich war ihm das klar, aber er konnte es sich immer noch nicht eingestehen.
„Magst du mich denn gar nicht mehr?“
„Doch, das hat ja damit nichts zu tun und deswegen ist es doppelt scheiße! Ich möchte dir nicht wehtun, aber ich muss. Denn ich kann den Gedanken nicht mehr ertragen, dass ich mich vielleicht doch noch bei dir anstecken könnte, egal wie unwahrscheinlich das ist. Wenn ichüberhaupt negativ bin.“
„Es ist also wahr!“ Maximilian presste die Worte zwischen seinen Zähnen hervor.
„Was ist wahr?“
„HIV ist ein Stigma, selbst bei Freunden. Kennst du die Bedeutung der Roten Schleife, Doro?“
Dorothee schüttelte den Kopf. „Nein, darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht.“
„Ich habe es neulich herausgefunden. Die Rote Schleife steht für Liebe, Toleranz, für Solidarität mit den und Hoffnung für die HIV-Positiven. Das klingt fantastisch, nicht? So menschlich und würdevoll. Es lässt sich alles so leicht sagen, wenn man nicht betroffen ist.“
„Meinst du nicht, dass du das alles im Moment durchaus erfährst?
„Keine Ahnung.“
„Hätte Leo sich sonst mit dir versöhnt? Stände ich jetzt hier und würde mit dir reden? Mensch, ich kann doch momentan nur keine körperliche Beziehung mehr zulassen. Da macht mein Kopf nicht mit. Dennoch sind wir Freunde. Dennoch halte ich zu dir. Du bist nicht alleine. Deine Familie steht hinter dir. Alle, die davon wissen, halten dicht. Ist das nicht eine Form von Liebe, Toleranz oder Solidarität?“
Maximilian quälte sich ein Lächeln ab. „Wie immer hast du wahrscheinlich Recht. Aber weißt du, was das Schlimmste ist?“ Für einen kurzen Moment schwiegen die beiden. „Ich würde an deiner Stelle genauso entscheiden! Ich könnte es vermutlich auch nicht.“
„Ist das nicht furchtbar?“ Dorothee erwartete keine Antwort. „Ich meine, das ist doch so, als ob eine Grenze zwischen uns gezogen wurde. Man kann sie übertreten und keiner weiß, was passiert. Und genaudas macht mir so viel Angst.“
Maximilian atmete tief ein. „Mach dir wegen mir keine Sorgen, ich komme schon klar. Hauptsache, du kommst aus der ganzen Geschichte heile raus. Das würde mir am meisten leid tun, wenn du auch positiv bist.“
Dorothee nickte und drehte Max den Rücken zu. Maximilian konnte das Schluchzen hören, das von ihren Handflächen gedämpft wurde. Die Tränen rannen zwischen ihren Fingern hindurch und tropften auf das Laminat. Wie Perlen blieben sie liegen. Langsam näherte sich Maximilian von hinten, legte seine Arme um ihre Schultern und zog sie sanft an seinen Körper. Er sog ihren Geruch ein. Ja, das war Doros
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