Die Rückkehr der Jungfrau Maria
wollte mit Straßenkunst in U-Bahnschächten ein bisschen Geld zusammenkratzen, aber Maria redete mir das aus.
Als die Lebensmittelvorräte nur noch für zwei Tage reichten, hatte ich keine andere Wahl, als meine Pflegemutter Margret anzurufen, obwohl mir das gar nicht gefiel. Aus Angst, ihr Telefon könnte abgehört werden, traute ich mich nicht, bei ihr zu Hause anzurufen, weshalb ich früh morgens auf dem Nachbarhof anrief, da Margret dort um diese Zeit Milch kaufte. Sie machte mir keine Vorwürfe, dass ich ohne Abschied gegangen war, und stellte keine Fragen, erzählte nur, dass irgendwelche Männer nach mir gesucht hätten. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass Maria bei mir war, aber sie ahnte es, denn sie fragte:
»Wie geht es euch?«
»Mal so, mal so.«
»Braucht ihr Geld?«
»Ich kann nicht bestreiten, dass dem so ist, Margret. Hoffentlich kann ich es dir später zurückzahlen.«
»Darüber sprechen wir dann, falls wir uns noch daran erinnern. Wohin soll ich es schicken?«
Ich sagte es ihr und fragte, was es Neues gebe.
»Hier auf dem Land gibt es eigentlich nichts Neues, außer dass du einen Brief vom Vatikan bekommen hast.«
»Vom Vatikan? Was kann das sein?«
Margret wusste es nicht, da sie den Brief nicht geöffnet hatte, aber ich war neugierig und bat sie, ihn zu holen. Eine Stunde später rief ich sie wieder auf dem Bauernhof an.
»Soll ich das Siegel aufbrechen?«, fragte sie.
»Was für ein Siegel ist es denn?«
»Es ist aus rotem Wachs, und der Stempel zeigt den Kopf eines Mannes mit irgendwelchen Zeichen darunter.«
»Brich es auf.«
Es raschelte, als Margret den Brief aus dem Umschlag nahm. Darin bedankte man sich für die Fotokopie des Manuskripts Die Rückkehr der Jungfrau Maria , die die Handschriftenabteilung vor zehn Jahren erhalten habe, und schrieb, das Manuskript sei nach der Untersuchung durch Experten an führende Persönlichkeiten im Vatikan übergeben worden und deshalb unauffindbar gewesen, als der inzwischen verstorbene Professor Johannes seinerzeit danach gesucht habe. Großvater wurde mit lobenden Worten bedacht, als großer und bedeutender Wissenschaftler bezeichnet, »der weiter, tiefer und sinniger blickte als andere Menschen«. Man schrieb, dass er in der Geschichte der Religion seinen Platz finden und im Lichte der vergangenen Ereignisse gewiss eines Tages heiliggesprochen würde. Es hieß, man habe Maria, seit ihre einzigartigen Begabungen erstmals ans Licht gekommen seien, vom Vatikan aus mit Interesse beobachtet, und viele hochgestellte Männer innerhalb der katholischen Kirche hätten großen Anteil an ihrem Leidensweg und der offenbar rechtswidrigen Untersuchungshaft genommen. Der Brief ging zwar nicht so weit, zu konstatieren, dass man sie für die Reinkarnation der Jungfrau Maria hielt, aber man sei sich einig, dass sie eine untadelige Frau sei, die ein großes Martyrium durchlitten habe und wertvolle Fähigkeiten besitze, die sich im Dienste des christlichen Glaubens nutzen ließen. Man bekundete sein Interesse, mit Maria und mir in Kontakt zu treten, und schrieb, dass wir unsere Angelegenheiten mit Hilfe des Vatikans erfolgreich klären könnten. Der Brief endete damit, dass wir an einem bestimmten Tag zu einem Treffen mit einer Delegation des Papstes eingeladen wurden.
»Das ist morgen«, warf ich ein, als Margret das Datum vorgelesen hatte. Das Treffen sollte in der Innenstadt stattfinden, in der Nähe des Doms. Wir konnten zu Fuß hingehen. Der Brief war von hochgestellten Kirchenmännern unterschrieben, und ganz unten war die Unterschrift des Papstes.
»Der Brief ist wirklich vom Papst unterschrieben?«, fragte ich irritiert.
»Ja, soweit ich sehen kann, schon. Da steht sein Name, sowohl gedruckt als auch handschriftlich.«
»Aber die Unterschrift des Erlösers siehst du nicht, oder?«
»Nein, aber du solltest vielleicht trotzdem darüber nachdenken, Michael, es könnte günstig für euch sein.«
Ich sagte, ich würde es mit Maria besprechen, bedankte mich bei Margret und verabschiedete mich. Voller Zuversicht weckte ich Maria und überbrachte ihr die Neuigkeiten. Als sie es gehört hatte, blieb sie einen Moment still liegen, schaute mir in die Augen, als sei sie in einem realen Albtraum erwacht, und sagte dann:
»Wenn du diese Männer triffst, ist das unser Ende.«
Ich war verwundert, dass sie so bedingungslos ablehnend reagierte, und versuchte sie umzustimmen, aber ohne Erfolg. Je länger wir über die Sache sprachen, desto überzeugter war
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