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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Schrift bedeutet. Hast du es dabei?«
    Levin grinste und klopfte auf die Brusttasche seiner Jeansjacke.
    »Bis später!«, rief Lis in Richtung Küche und zog ihren Bruder ins kühle Treppenhaus.
    »Ich habe Zettel und Stift mitgenommen, wir setzen uns erst in ein Cafe und ich male die Inschrift ab. Dann fragen wir im Museum. Vielleicht haben sie in der Museumsbibliothek ja alte Wörterbücher oder können uns wenigstens sagen, was für eine Sprache das ist.«
    Nieselregen empfing sie, als sie auf die Straße traten und in Richtung Tartiniplatz gingen. Das Meer war bleigrau und aufgewühlt. Obwohl der Wind warm war, lag Gewitter in der Luft. Am Himmel standen festgefroren dicke, hellgraue Wolken, die sich in Lis’ Augen in mächtige Wolkenpferde und fratzenhafte Gesichter verwandelten. Die Touristen hatten sich in die Cafes an der Strandpromenade verkrochen und schrieben Postkarten. Lis und Levin gingen am Hotel Piran vorbei und kamen zur kleinen, U-förmigen Hafenbucht. Mit hochgezogenen Schultern umrundeten sie das Hafenbecken, in dem Dutzende von weißen Fischer- und Segelbooten im Regenwind schaukelten.
    Schon von weitem sahen sie das riesige, altrosa Museumsgebäude, dessen vorderer Teil wie ein griechischer Tempel aussah. Vier weiße ionische Säulen mit verschnörkelten Kapitellen erhoben sich über zwei Stockwerke und trugen die dreieckige Dachfront. Im untersten Stockwerk ragten streng symmetrisch drei steinerne Bögen empor. Wie im Märchen lauerten darin drei riesige Flügeltüren aus Holz auf Menschen, die das Tor in die Vergangenheit durchschreiten wollten, und wie im Märchen war nur eine der Türen die richtige: die mittlere, die offen stand und hinter der die Dunkelheit gähnte. Lis schauderte unwillkürlich, dann lächelte sie über sich selbst und ihre unbestimmte Angst vor allem Vergangenen.
    Rasch betraten sie das Cafe neben dem Museum, das einen schönen Blick auf den Hafen und auf den winzigen Palmenpark neben dem Museum bot. Heute waren die verwitterten Parkbänke leer und der Springbrunnen in der Mitte plätscherte mit dem Regen um die Wette. Als Lis die Hände um eine heiße Tasse mit Kaffee schloss und den Regen beobachtete, der gegen die Scheibe schlug, fühlte sie sich plötzlich geborgen, heimelig und unternehmungslustig. Sie zog Block und Füller aus der Tasche und sah Levin erwartungsvoll an. Levin nickte, zwinkerte verschwörerisch und holte das Medaillon, das er in einem zusammengefalteten Briefumschlag verstaut hatte, aus der Jackentasche. Natürlich überreichte er es ihr mit einer gespielt feierlichen Geste, sodass die zwei alten Damen am Nebentisch die Hälse reckten.
    Sobald Lis das Silber berührte, prickelte ihre Haut wie am Vortag. Wieder schien diese seltsame Wärme von dem Medaillon auszugehen. Mit einem kleinen Klick schnappte es auf und gab den Blick frei auf das ernste Mädchenporträt und die geheimnisvolle verschnörkelte Inschrift. Linie um Linie malte Lis sie ab. Sie schien nur aus einem einzigen Wort zu bestehen, vielleicht war es der Name des Mädchens, das vor vielen Jahrhunderten hier gelebt haben mochte und die Kette verloren hatte. Oder vielleicht war ihr die Kette bei einem Unglück abhanden gekommen? Womöglich war das Mädchen ertrunken. Lis zog die Brauen zusammen, dann vollendete sie die letzte geschwungene Linie und wedelte mit dem Blatt, damit die Tinte trocknete. Levin tippte auf seinem Handy herum.
    »In einer Stunde fahren Silke und Gregor zum Con«, murmelte er und steckte das Handy weg. Seufzend sah er auf den grauen Hafen, wo der Regen das Meerwasser in einen Teppich aus Wasserspitzen verwandelte. Eine lange Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Seitdem er die Rolle des Hohepriesters spielte, ließ er sich die Haare wachsen. Er wollte sie so lang werden lassen, dass er sie zu einem Zopf zusammenbinden konnte. Lis fand, dass ihm diese keltische Haartracht nicht stand. In seiner Klasse wurde Levin von vielen bewundert – einige allerdings hielten ihn für einen Spinner, was Lis bei aller Solidarität mit ihrem Bruder sogar verstehen konnte. Auch ihr ging Levins Con-Wahn schon seit geraumer Zeit zu weit. Sie unterdrückte den Anflug von Ärger und trank ihren Kaffee aus. Dann packte sie das Medaillon vorsichtig wieder in den Briefumschlag und reichte es ihrem Bruder – nicht ohne erneut den Stich der Eifersucht zu fühlen. Sei nicht lächerlich, sagte sie zu sich und zwang sich das Briefkuvert mit dem kostbaren Inhalt loszulassen. »Der Regen hat

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