Die Rückkehr der Zehnten
wartete. Das konnte er gut.
Schließlich begann Kajetan wieder zu sprechen. »Nun gut«, sagte er. »Vielleicht wisst ihr es ja wirklich nicht. Es ist so, dass ich anfangs dachte, es sei eine altkirchenslawische Inschrift, die man auf das neunte oder zehnte Jahrhundert datieren könnte.«
Levin stieß einen leisen Pfiff aus und griff unwillkürlich zu seiner Jackentasche. Als fühlte er sich ertappt, ließ er die Hand jedoch sofort wieder sinken.
»Einige der Zeichen stimmen tatsächlich beinahe überein«, fuhr Kajetan fort. »Aber eben nur beinahe.« Er beugte sich vor und sagte leiser. »Die Inschrift scheint älter zu sein. Ich bin kein Experte, aber nach allem, was ich weiß, ist bisher noch keine slawische Schrift entdeckt worden, die so aussieht wie diese hier.«
»Sie wissen also nicht, was die Inschrift bedeutet?«, fragte Lis.
Kajetan lächelte zum ersten Mal ein messerfeines, stolzes Lächeln. »O doch – das lässt sich, so denke ich, anhand der Ähnlichkeit einiger Buchstaben ganz gut erschließen.«
Er nahm den Zettel mit der Inschrift, zückte einen Kugelschreiber und malte in großen, steilen Buchstaben darunter:
DESETNICA
Levin runzelte die Stirn. »›Deset‹ – das hat etwas mit der Zahl Zehn zu tun.«
Kajetan beugte sich noch näher zu ihnen. Seine Augen erschienen Lis dunkel und unheimlich. »Die zehnte Tochter«, sagte er. »Die Unglücksbringerin. Hat eure Großmutter euch nie davon erzählt?«
Lis schluckte und schüttelte den Kopf. Levin warf ihr einen viel sagenden Blick zu und lächelte.
»Das Motiv der zehnten Tochter stammt noch aus heidnischer Zeit«, begann Kajetan. »Aber es hat sich bis heute auch im Christentum erhalten. Sicher kennt ihr das mittelalterliche Gebot, den ›Zehnt‹, also den zehnten Teil der Ernte, abzugeben?«
Lis und Levin nickten.
»Nun, früher war es der Brauch, den zehnten Teil von allem, was man besaß, den Göttern zu opfern. Die Ernte, das Vieh – oder das zehnte Kind. Denn es galt als Unglücksbringer für die Familie, vor allem wenn es eine Tochter war.«
»Wurde sie getötet?«, fragte Lis. Unwillkürlich dachte sie an das ernste Mädchengesicht im Medaillon und schauderte.
Kajetan hob die Hände in einer priesterlich-fragenden Geste. »Wie man es nimmt. Meistens lief es auf ihren Tod hinaus. Sie wurde ausgesetzt oder in die Welt hinausgeschickt. Oft wurden dieser ›Desetnica‹ übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben.« Kajetan holte Luft und sah sie wieder prüfend an.
Lis bemerkte, wie sehr die Geschichte ihren Bruder faszinierte. Seine Augen leuchteten und sein Gesicht zeigte diesen selbstvergessenen Ausdruck, den er hatte, wenn er seine Kampfvideos ansah.
»Das heißt, die Inschrift könnte sogar noch älter sein?«, fragte er.
Kajetan wiegte den Kopf. »Möglich, wie gesagt, ich bin kein Experte, aber ich weiß, dass es diese Schrift nicht gibt. Ich würde sie gerne einem Kollegen zeigen, der sich mit Sprachwissenschaft und darüber hinaus mit slowenischer Geschichte und Mythologie beschäftigt.«
»Mythologie?«, fragte Levin. »Was gibt es denn für slowenische Mythen?«
Kajetan zog die Brauen hoch. »Die schöne Vida zum Beispiel.«
»Vida heißt unsere Tante!«, sagte Lis.
Kajetan lächelte. »Ihr sprecht Slowenisch und kennt das bekannteste aller Volkslieder nicht?«
Zum ersten Mal betrachtete er Lis genauer. Vor seinem Wolfsblick fühlte sie sich unsicher, aber sie setzte sich gerade hin und versuchte so harmlos auszusehen wie Levin. Kajetan lächelte schwach und lehnte sich zurück.
»Nun, Vida war ein schönes Mädchen, das einen alten Mann geheiratet hatte und bald darauf ein Kind bekam. Tagsüber schrie Vidas Sohn, nachts hielt sie das Husten ihres alten Ehemannes wach. Eines Tages saß sie am Meeresstrand und beklagte ihr Schicksal, als plötzlich ein schwarzer Mann auftauchte. Sie entfloh ihrem unglücklichen Leben, indem sie zu ihm aufs Schiff stieg und nach Spanien segelte. Nur wurde sie dort auch nicht glücklich.«
Immer noch betrachtete er Lis, die gegen den Impuls ankämpfte, aufzuspringen und in den Regen zu laufen. Kajetan beugte sich zu ihr vor.
»In Spanien sehnte sie sich nach dem Leben, das sie verlassen hatte. Nach dem alten Mann und dem Kind. Ist das nicht typisch für die menschliche Natur?«
»Ist es das?«, erwiderte Lis. Im Bemühen, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, hörte sie sich an wie ein trotziges Kind.
Kajetan lächelte noch breiter. »Es gibt so viele Menschen,
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