Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
mußtest«, sagte sie dann. »Vielleicht hilft es dir, vielleicht auch nicht – es kommt darauf an, was du damit anfängst.«
Niedergeschlagen blickte ich zu Boden und sagte mit gedämpfter Stimme, mehr zu mir selbst als zu ihr: »Immer verliere ich meine Lehrer. Erst hat Socrates mich weggeschickt, und jetzt sagst du nur, daß du bald fortgehen wirst.«
»Man soll sich nie zu sehr an einen Lehrer hängen«, ermahnte sie mich. »Du darfst das Geschenk nicht mit der Verpackung verwechseln. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich glaube ja«, antwortete ich. »Das heißt, daß mir wieder so eine aussichtslose Jagd nach einem Hirngespinst bevorsteht – die Suche nach einem Lehrer ohne Gesicht an einem Ort ohne Namen.«
Mama Chia lächelte. »Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer.«
»So etwas Ähnliches habe ich schon einmal gehört«, sagte ich.
»Aber verstehst du auch wirklich, was damit gemeint ist? In Wirklichkeit bedeutet dieser Satz: Wenn der Schüler bereit ist, taucht der Lehrer von selbst auf, und zwar überall – am Himmel, in den Bäumen, in Taxis und Bankgebäuden, in der Praxis eines Psychotherapeuten oder an einer Tankstelle, in Gestalt deiner Freunde und auch deiner Feinde. Wir sind alle Lehrer füreinander. In jeder Siedlung, jeder Stadt, jedem Staat, jedem Land gibt es Lehrer – Lehrer für Menschen auf den verschiedensten Bewußtseinsebenen. Wie überall hat der eine vielleicht einen besonders hohen Grad an Bewußtsein erreicht und ist besonders begabt, der andere weniger. Aber das spielt im Grunde gar keine Rolle. Denn eigentlich ist alles eine Offenbarung; alles hängt miteinander zusammen. Jedes kleine Teilchen spiegelt das Ganze wider, wenn du nur Augen hast, um zu sehen, und Ohren, um zu hören.
Im Augenblick kommt dir das wahrscheinlich sehr abstrakt vor, aber eines Tages – und der Tag ist vielleicht nicht mehr sehr fern – wirst du das alles begreifen. Und wenn du es begriffen hast«, sagte sie und hob einen glänzenden Stein auf, »dann wirst du dir diesen Stein anschauen oder die Adern dieses Blattes betrachten oder einen Pappteller im Wind davonfliegen sehen und darin die verborgenen Prinzipien des Universums erkennen.«
Ich dachte über ihre Worte nach. »Was ist eigentlich gegen menschliche Lehrer einzuwenden?« fragte ich.
»Sehr viel! Denn jeder Lehrer in menschlicher Gestalt ist zwangsläufig mit irgendeiner Schwäche, Absonderlichkeit oder Unzulänglichkeit behaftet. Vielleicht sind es große Probleme, die er mitbringt – vielleicht auch nur kleine. Vielleicht ist es Sex oder Essen oder Macht – oder noch schlimmer: Vielleicht stirbt der Lehrer dir einfach unter den Händen weg.« An dieser Stelle hielt sie inne, um
den Effekt noch ein bißchen zu verstärken. »Aber für die meisten Menschen«, fuhr sie dann fort, »ist ein Lehrer in Menschengestalt trotzdem das Beste, was ihnen passieren kann – ein lebendes Beispiel, ein Spiegel. Es ist einfacher, die geschriebenen oder gesprochenen Worte eines Menschen zu verstehen als die Sprache von Wolken oder Katzen oder von einem Blitz am rosa Abendhimmel.
Auch Menschen haben ihre Weisheit, die sie dir vermitteln können.
Doch sobald du die Inneren Aufzeichnungen aufschlägst, siehst du das alles direkt vor dir, von innen, und der Lehrer des Universums spricht zu dir.«
»Was kann ich denn im Augenblick tun, um mich vorzubereiten?« fragte ich.
Da wurde Mama Chia sehr still und blickte eine Weile ins Leere. Schließlich wandte sie sich wieder zu mir: »Ich habe bereits alles getan, um dich vorzubereiten.«
»Worauf?« fragte ich.
»Auf das, was kommt.«
»Rätsel habe ich noch nie leiden können.«
»Vielleicht hat dir das Leben deshalb so viele aufgegeben«, schmunzelte sie.
»Und woher soll ich wissen, ob ich bereit bin?«
»Du könntest es erkennen, indem du ganz einfach vertrauensvoll in dich hineinhorchst«, sagte sie. »Aber du besitzt eben nicht genug Vertrauen zu dir. Deshalb brauchst du immer wieder eine Herausforderung – eine Prüfung –, die dir beweist, was du bis jetzt gelernt hast und was noch nicht.«
Mama Chia erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Schließlich blieb sie stehen und sagte: »Auf dieser Insel gibt es einen Schatz – gut verborgen vor Augen, die ihn nicht sehen sollen. Ich möchte, daß du ihn findest. Gelingt es dir, dann bist du bereit, die Insel zu verlassen und mit meinem Segen weiterzuziehen. Wenn nicht …« Sie beendete ihren Satz
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