Die Rückkehr des Sherlock Holmes
letzten Eindruck von diesem schönen, geplagten Gesicht, den furchtsamen Augen und dem herabgezogenen Mund. Dann war sie fort.
»Nun, Watson, das schöne Geschlecht fällt in Ihr Fach«, sagte Holmes lächelnd, nachdem das leiser werdende
frou-frou
ihrer Röcke mit dem Zuschlagen der Tür geendet hatte. »Worauf wollte die schöne Lady hinaus? Was wollte sie wirklich?«
»Zweifellos hat sie sich deutlich erklärt, und ihre Sorge ist ganz natürlich.«
»Hm! Bedenken Sie ihre äußere Erscheinung, Watson, ihr Gebaren, ihre unterdrückte Erregung, ihre Ruhelosigkeit, die Beharrlichkeit, mit der sie ihre Fragen stellte. Vergessen Sie nicht, daß sie einer Kaste entstammt, in der man so leicht keine Gefühle zeigt.«
»Sie war sicherlich sehr bewegt.«
»Bedenken Sie ferner den seltsamen Ernst, mit dem sie uns versicherte, daß es für ihren Mann das beste wäre, wenn sie alles erführe. Was hat sie damit gemeint? Und Ihnen muß doch aufgefallen sein, Watson, wie sie sich geschickt so hinsetzte, daß sie das Licht im Rücken hatte. Sie wollte nicht, daß wir in ihrem Gesicht lesen könnten.«
»Ja; sie nahm den einzigen Sessel hier im Zimmer.«
»Und doch sind die Motive der Frauen so unergründlich. Erinnern Sie sich noch an die Frau in Margate, die ich aus demselben Grund verdächtigt habe? Kein Puder auf der Nase – und das war dann am Ende die richtige Lösung. Wie kann man nur auf solchem Treibsand bauen? Ihre banalsten Taten können Bände bedeuten, und ihr auffälligstes Verhalten kann auf einer Haarnadel oder einer Brennschere beruhen. Guten Morgen, Watson.«
»Sie gehen?«
»Ja; ich werde den Vormittag mit unseren Freunden von der regulären Beamtenschaft in der Godolphin Street verbringen. Die Lösung unseres Problems liegt bei Eduardo Lucas, wenn ich auch zugeben muß, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, welche Form sie annehmen wird. Es ist ein kapitaler Fehler, vor Kenntnis der Tatsachen Theorien aufzustellen. Bleiben Sie hier auf dem Posten, Watson, und empfangen Sie alle neuen Besucher. Ich werde zum Mittagessen zu ihnen stoßen, wenn ich kann.«
Den ganzen Tag sowie die beiden Tage darauf war Holmes in einer Stimmung, die seine Freunde wortkarg, andere aber mürrisch nennen würden. Er rannte hinaus, rannte herein, rauchte unablässig, spielte Fragmente auf seiner Geige, versank in Träumereien, verschlang zu den unmöglichsten Zeiten Butterbrote und reagierte kaum auf meine gelegentlichen Fragen. Mir war klar, daß es mit ihm oder seiner Suche nicht gut lief. Er selbst wollte sich zu dem Fall nicht äußern, und so erfuhr ich denn aus den Zeitungen von den Einzelheiten der Ermittlungen und von der Verhaftung und späteren Freilassung John Mittons, des Kammerdieners des Verstorbenen. Die Leichenschaukommission kam zu dem erwarteten Ergebnis »vorsätzlicher Mord«, aber die Beteiligten blieben nach wie vor unbekannt. Kein Motiv deutete sich an. Das Zimmer war voller kostbarer Gegenstände gewesen, aber kein einziger war gestohlen worden. Die Papiere des Toten waren nicht durchgewühlt worden. Ihre sorgfältige Untersuchung ergab, daß er ein eifriger Student der internationalen Politik, ein unermüdlicher Kannegießer, ein bemerkenswertes Sprachgenie und ein unverdrossener Briefschreiber gewesen war. Er hatte mit den führenden Politikern etlicher Staaten auf vertrautem Fuße gestanden. Unter den Dokumenten, die seine Schubladen füllten, wurde jedoch nichts Sensationelles gefunden. Was seine Beziehungen zu Frauen anbelangte, so schienen sie mannigfaltig, aber oberflächlich gewesen zu sein. Er hatte viele Bekannte, aber nur wenige Freundinnen und keine, die er liebte. Seine Gewohnheiten waren regelmäßig, sein Verhalten unauffällig. Sein Tod war ein vollkommenes Rätsel, und es sah so aus, als sollte er das auch bleiben.
Die Festnahme des Kammerdieners John Mitton war von der Not als Alternative zu vollkommener Untätigkeit diktiert worden. Aber die Anklage gegen ihn ließ sich nicht aufrechterhalten. Er hatte in jener Nacht Freunde in Hammersmith besucht. Sein Alibi war perfekt. Zwar trifft es zu, daß er sich zu einer Stunde auf den Heimweg gemacht hatte, die ihn vor dem Zeitpunkt der Entdeckung des Verbrechens nach Westminster gebracht hätte, doch schien seine Erklärung, er habe einen Teil des Weges zu Fuß zurückgelegt, in Anbetracht der Schönheit jener Nacht durchaus glaubhaft. Tatsächlich war er um Mitternacht zurückgekommen und schien von der unerwarteten Tragödie
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