Die Rückkehr des Sherlock Holmes
zutiefst erschüttert. Er war mit seinem Herrn immer gut ausgekommen. In den Kästen des Kammerdieners hatte man mehrere Gegenstände aus dem Besitz des Toten gefunden – insbesondere eine kleine Schachtel mit Rasiermessern –, was er aber damit erklärte, daß dies Geschenke des Verstorbenen seien; die Haushälterin konnte diese Version bestätigen. Mitton hatte seit drei Jahren bei Lucas in Brot gestanden. Auffällig war, daß Lucas Mitton nie mit auf den Kontinent genommen hatte. Manchmal war er drei Monate hintereinander in Paris gewesen, während Mitton das Haus in der Godolphin Street hüten mußte. Die Haushälterin hatte in der Nacht des Verbrechens nichts gehört. Wenn ihr Herr Besuch gehabt hätte, so hätte sie selbst ihn hereinlassen müssen.
So blieb das Rätsel drei Vormittage bestehen, soweit ich es in den Zeitungen verfolgen konnte. Wenn Holmes mehr wußte, behielt er es für sich, aber als er mir erzählte, Inspektor Lestrade habe ihn in den Fall eingeweiht, wußte ich immerhin, daß er über alle Entwicklungen auf dem laufenden war. Am vierten Tag kam ein langes Telegramm aus Paris, das das ganze Problem zu lösen schien:
Die Pariser Polizei hat soeben eine Entdeckung gemacht (schrieb der
Daily Telegraph),
die den Schleier von dem tragischen Schicksal Mr. Eduardo Lucas’ hebt; Lucas war vorige Montagnacht in der Godolphin Street, Westminster, eines gewaltsamen Todes gestorben. Unsere Leser werden sich erinnern, daß der Gentleman erstochen in seinem Zimmer aufgefunden wurde und daß der Verdacht auf seinen Kammerdiener fiel, aber aufgrund eines Alibis fallengelassen wurde. Gestern wurde eine Frau, die als Mme. Henri Fournaye ein kleines Haus in der Rue Austerlitz bewohnt, von ihren Dienstboten den Behörden als wahnsinnig gemeldet. Eine Untersuchung ergab, daß sich bei ihr in der Tat ein gefährlicher und chronischer Wahn entwickelt hatte. Bei ihren Ermittlungen fand die Polizei heraus, daß Mme. Henri Fournaye erst vorigen Dienstag von einer Reise nach London zurückgekehrt war, und es gibt Anhaltspunkte dafür, daß sie mit dem Verbrechen in Westminster zu tun hat. Ein Vergleich von Photographien hat eindeutig erwiesen, daß M. Henri Fournaye und Eduardo Lucas in Wirklichkeit ein und dieselbe Person waren und daß der Verstorbene aus irgendeinem Grund in London und Paris ein Doppelleben geführt hatte. Mme. Fournaye, die kreolischer Abstammung ist, ist von extrem reizbarer Natur und hat in der Vergangenheit Eifersuchtsanfälle erlitten, die an Raserei gegrenzt haben. Es wird vermutet, daß sie in einem dieser Anfalle das furchtbare Verbrechen begangen hat, das in London solches Aufsehen erregt. Ihre Aktivitäten in jener Nacht sind noch nicht erforscht, doch ist unbestritten, daß eine Frau, auf die ihre Beschreibung paßt, am Dienstagmorgen in der Charing Cross Station durch ihre verstörte Erscheinung und die Heftigkeit ihres Gebarens einige Aufmerksamkeit erregt hat. Es liegt daher nahe, daß das Verbrechen entweder in geistiger Umnachtung begangen wurde oder daß seine unmittelbare Wirkung die unglückliche Frau um den Verstand brachte. Zur Zeit ist sie nicht imstande, irgendeine zusammenhängende Schilderung der Vergangenheit zu geben, und die Ärzte können nicht versprechen, daß sie ihre Vernunft wiedererlangt. Es gibt Hinweise darauf, daß eine Frau, bei der es sich um Mme. Fournaye gehandelt haben könnte, in jener Montagnacht mehrere Stunden lang vor dem Haus in der Godolphin Street gesehen wurde.
»Was halten Sie davon, Holmes?« Ich hatte ihm den Bericht vorgelesen, während er zuende frühstückte.
»Mein lieber Watson«, sagte er, indem er vom Tisch aufstand und im Zimmer auf und ab schritt, »Sie sind überaus langmütig; aber wenn ich Ihnen in den letzten drei Tagen nichts erzählt habe, so nur deshalb, weil es nichts zu erzählen gibt. Selbst dieser Bericht aus Paris hilft uns nicht sonderlich.«
»Sicher ist damit doch der Tod des Mannes aufgeklärt.«
»Der Tod dieses Mannes ist eine reine Nebensache – ein belangloser Zwischenfall – im Vergleich zu unserer eigentlichen Aufgabe, die darin besteht, dieses Dokument aufzuspüren und eine europäische Katastrophe zu verhindern. In den letzten drei Tagen ist nur eine Sache von Wichtigkeit passiert, und zwar die, daß nichts passiert ist. Ich erhalte fast stündlich Nachricht von der Regierung, wonach feststeht, daß es nirgends in Europa Anzeichen für eine Beunruhigung gibt. Nun, wenn dieser Brief in Umlauf
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