Die Ruhelosen
sechste Klasse aufnehmen zu wollen. »In meinem Zeugnis steht:
Repetition der fünften Klasse.
Das will ich nicht. Ich will in die sechste.«
»Und wieso glaubst du, dass du dafür geschaffen bist?«
»Ich habe gehört, dass Sie hier die Kinder der ersten bis zur sechsten Klasse in einem Raum gemeinsam unterrichten. Und wenn ich etwas aus der fünften Klasse nicht weiß, kann ich ja einfach hinüberhorchen …«
»Aha.«
Die wasserblauen Augen des Jungen blitzten ungeduldig unter dem zu langen hellblonden Franshaar hervor, als Beck endlich zustimmte: »Probeweise. Wir werden ja bald sehen, ob du hältst, was du versprichst.« Die letzten Worte des Lehrers hatte Nunzio bereits nicht mehr richtig gehört, er hatte sich auf das deutsche Rad geschwungen, das er von seiner Nonna für den Aufenthalt auf dem Land geschenkt bekommen hatte, ein altes, mit Vollgummireifen ausgestattetes, weil Normalgummi kriegswichtig war, aber doch ein nützliches, wie Nunzio zufrieden feststellte, und weg war er.
Oft konnte man ihn so durchs Dorf auf und ab strampeln sehen, den forschen Nunzio mit seinem strohigen Haar,ein grünes Wolljäckchen über dem weißen Hemd zugeknöpft, die Ärmel vorsorglich mit Schonern versehen, die seine Mutter aus einem alten blau-weiß getupften Kleid geschneidert hatte, beide Füße kräftig in die Pedalen gedrückt und eine Hand über der Bremse. Mit seinen Sohlen mochte er noch nicht den Boden erreichen, dazu musste er das Rad schräg stellen, aber mit genügend Schuss, wusste er den staunenden Bluntschli-Kindern zu berichten, kommst du jeden Hang hinunter.
So lernte Nunzio das Leben einer Bauernfamilie aus dem Zürcher Oberland kennen. Er hatte auf dem Feld geholfen, Zuckerrüben für das Vieh mit einem S-förmigen Stanzeisen zerkleinert, er hatte in der Tanse die Milch zur Hütte der Käserei Herschmettlen getragen, aus der Emmentaler Käse hergestellt wurde in bauchigen Kupferkesseln. Nunzio erachtete es als seine Pflicht, jedes Mal genau hinzusehen, wenn Käser Fröschli die Anzahl Kilo Milch, die er hergeschleppt hatte, ins Büechli eintrug, er wollte sicher sein, dass das Milchgeld seiner Gastfamilie stimmte.
In der Schule konnte er gut mithalten, und in seiner freien Zeit stromerte er zusammen mit Toni Bluntschli, der ein Jahr älter war, durch die Wälder, Felder und die Wiesen. Toni wusste Vögel, Gräser und Pflanzen zu benennen. In der Kiesgrube jagten sie hinter Eidechse und Salamander her, und abends berichteten sie der jüngeren Geschwisterschar bei Sauerteigbrot und Milch von ihren Abenteuern.
Als die Alliierten mit lautem Gebrumm über den Himmel donnerten, gingen die beiden Burschen auf Jagd nach abgeworfenen Stanniolstreifen. Die speziell zugeschnittenen Streifen sollten als passive Störung das Radarsignal der Deutschen zerstreuen. Toni und Nunzio hatten ihre Freude an dem reflektierenden Metall, das sie in Wiesen, Sümpfen und am Waldrand fanden. Sie legten sich einen Vorrat an, im Kriege musste man vorsorgen, das hatten beide früh gelernt.Aber nicht nur der Stanniolstreifen wegen, ganz überhaupt, so empfand es Nunzio, erlebte er bei Bluntschlis seine aufregendste Zeit. Als sich die Bluntschlibrüder in den Kampf geworfen hatten, um gegen die Meliorierung des Gossauer Rieds anzugehen, war Nunzio »an vorderster Front« mit dabei. Was er hier erlebte, übertraf alles, was ihm sein Alltag zu Hause in Küsnacht je hätte bieten können. Er warf sich ins Zeug, nicht nur seines Onkels wegen, der so manchen Fußballplatz fürs Rübenstecken hatte hergeben müssen: Er mischte sich ein. Es war ihm, als ob er ihn selber geschrieben hätte, den Zeitungsartikel aus der Neuen Zürcher Zeitung, der als Ausriss wochenlang im Milchhäuschen prangte: »Der Windschutz fehlt«. Er lernte, dass es für ein Feuchtgebiet wie das Gossauer Ried nicht gut sein konnte, wenn der Boden beackert würde und, wie Toni sagte, die Erosion kam.
Nunzio nahm sich vor, das Wort Erosion im Wörterbuch nachzuschlagen, denn wenn auch die Lebensmittel mit Märkli rationiert wurden: Bücher hatten Bluntschlis en masse! In der Wohnstube war jedes Tablar und jede Ablage von stapelweise Büchern, Heftchen und Zeitungen okkupiert. Das Gelbe Heft, Ringiers Unterhaltungsblatt, lagerte da neben der Zürcher Zeitung und der Schweizer Illustrierten Zeitung, den Beobachter erwartete die Familie jeweils mit großer Ungeduld, aus ihm schnitt sie die Coupons für allerlei Gratismüsterli, die man anfordern konnte, aus und kam
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