Die Ruhelosen
Gesellschaft, immer vielsprachig, gesprächig und vertraut.
Eines Abends sagte Abel zu Mondaine, es sei ihm, als ob irgendetwas von ihm abgesprungen sei, ein Fluch, ein Bann, ein unsichtbarer Metallreif um seine Brust, der aus ihm einen traurigen Prinzen gemacht habe, ihn von der Liebe ferngehalten habe. Und nun sei sie da, sie, sein Liebli. Es sei ihm, als ob er sein Leben lang nach dieser Liebe, ihrer, nach Berührung, ihrer, geschmachtet habe, sein Leben lang – oder vielleicht noch länger. Er meinte, vielleicht liege es in seinem Blut, dem schweren, östlichen, dass er schwermütig werde. Und dass er als einzigen Ausweg aus dieser Schwermut nur das Spiel, die Musik für sich erkannte. Und nun sie. Nun sie.
Dass seine Mutter, die spröde, stolze Cheina mit dem rot bemalten Mund, über diese neue Bekanntschaft nur wenig erbaut war und beharrlich schwieg, bedrückte ihn. Mondaine wischte seinen Kummer weg, indem sie sagte: »Wir haben uns unsere Eltern ja nicht ausgesucht.«
Von Abel aber sagte man, er habe das absolute Gehör. Und er hörte wohl die kleine Dissonanz in ihrer Stimme, die durch die Harmonie klang. Er vertraute ihr an, dass er viel lieber ein großer Geschäftsmann für sie wäre, mehr als bloß ein Musikant.
»Wie könntest du bei so viel musikalischem Talent auch nur ein Fünkchen Verstand für so etwas Unsinniges wie Kaufmannstum übrig haben?«
»Man kann an seinem Talent auch ersticken.«
»Großes Talent bedeutet immer große Verantwortung.«
Auf jedes und alles wusste sie eine Antwort, die ihn beruhigte. Selbst als er ihr von Josiane berichtete, dem elterlichen Dienstmädchen, der Beziehung zu ihr, die seit seinem vierzehnten Jahr dauerte, selbst als er sagte: »Wo ich doch schon einen Sohn habe …«
»Du bist ein Gentleman. Die Lösung, die ihr für das Kind gefunden habt, ist die richtige. Nicht zuletzt habe ich ja auch schon einen Sohn.«
Alles klang so harmonisch, so rein. So perfekt und paradiesisch.
Sie kitteten einander die Fugen, welche der Lauf des Lebens in ihre Charaktere geritzt hatte, und riegelten sich mit der Zeit hermetisch gegen alles ab, was von außen kam, was unerwünscht war, was störte.
Als Mondaine von Pino endlich geschieden war, heiratete sie ihren Abel; so wurde am 20. September 1944 aus der um Lebensmut ringenden Mondaine Abels Frau.
Nunzio und die Politik des Landes
Herschmettlen, 1944
»Isch guet«, war alles, was Nunzio antwortete, als man ihn zwölfjährig fragte, ob er denn einverstanden sei, als Tauschkind zur Bauernfamilie Bluntschli nach Herschmettlen bei Gossau zu ziehen, damit einer von deren Söhnen bei Vati Senigaglia in die Malerlehre gehen könne. Die Kleinbauernfamilie hatte keinen Weg gesehen, wie sie das Kostgeld hätte bezahlen sollen, aber ihrem Sohn hätten die Eltern halt doch gerne eine rechte Ausbildung ermöglicht. Da war die Idee aufgekommen, bei Senigaglias in Küsnacht nachzufragen. Immerhin hatte dort vor vier Jahren die eine Tochter einige Zeit als Haushaltlehrtochter verbracht. Senigaglias waren den Bluntschlis als freundliche, währschafte Menschen erschienen, von vernünftigem Schlag, wieso also nicht einfach einmal anfragen?
Die Woche durch sollte also der drittälteste Sohn, Mik, bei Senigaglias wohnen und der älteste Senigagliasohn, Nunzio, bei Bluntschlis. Ein ebenso einfacher wie bestechender Plan.
Allerdings gab es nach dem Handschlag ein Problem: Nunzio war gesundheitlich angeschlagen, man wusste nicht, woher diese Körperschwäche kam, aber die letzten Monate des fünften Schuljahres hatte er zur Erholung auf dem Hemberg bei einer Familie, die kranke Kinder aufpäppelte, verbringen müssen. Dort war er jeden Morgen hinunter in den Stall geschlurft, um kuhwarme Milch zu trinken. Ab und zu hatte er der Familienmutter tragen geholfen, wenn diese einmal wöchentlich nach St. Peterzell wanderte,wo sie neue Dessous abholte, die sie in Heimarbeit mit lachsfarbenen Stickereien schmückte. Nunzio hatte außer diesem gelegentlichen Mithelfen nicht viel tun müssen, nur eben wieder zu Kräften kommen. Die Schule konnte er drei Monate lang ausfallen lassen, aber in den Religionsunterricht hatte man ihn geschickt, da seine Muter, Alda, katholisch getauft und praktisch veranlagt, noch immer davon ausging, Nunzio könne dereinst etwas günstiger aufs katholische Gymnasium.
Auf den Frühling hin kam Nunzio nach Herschmettlen. Nicht scheu, marschierte der Bub als Erstes zu Lehrer Robert Beck und bat darum, ihn doch in die
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