Die Runen der Erde - Covenant 07
fuhr zusammen. »Das wolltest du? Du wolltest verstümmelt werden?«
Er betrachtete sie ernst. »Unter uns gibt es keine höhere Würde. Nur die Stimme der Meister genießt mehr Ehrerbietung, und selbst sie gibt nach, wenn die Gedemütigten gemeinsam sprechen.«
Genießt mehr Ehrerbietung ...
Abrupt durchzuckten sie neue Einsichten wie ein flüchtiger Blick ins innerste Herz der Meister. Fast ohne zu merken, was sie tat, machte sie Galt die Tür vor der Nase zu. Dann legte sie ihre Stirn innen an den kühlen Stein. Galt hatte ihr gegeben, was sie brauchte. Nun wusste sie, mit welchen Argumenten sie Aneles Freilassung fordern würde. Die angemaßte Meisterschaft der Haruchai über das Land beruhte auf einem tief greifenden Missverständnis. Vielleicht, so dachte Linden, würde sie noch etwas länger darauf verzichten können, den Wahnsinn des Alten für ihre Zwecke zu nutzen.
Als der Schwall aus unterschiedlichen Einsichten abgeebbt war, wandte sie sich wieder Liand und der Mahdoubt zu. Die ältere Frau beobachtete sie, musterte sie prüfend, und Linden fiel erstmals die verschiedene Färbung ihrer Augen auf. Während das linke Auge dunkelviolett leuchtete, war das rechte so verblüffend orangerot, dass es den Eindruck erweckte, es könnte gleich aus ihrem Kopf platzen.
Trotz ihrer seltsamen Erscheinung strahlte die Mahdoubt gemütvolle Freundlichkeit aus, von der Linden sich angesprochen fühlte. Mit dem letzten Rest ihrer schwindenden Wahrnehmung erkannte sie in der Frau kraftvolle Gesundheit und unverfälschte Herzensgüte. Als Reaktion darauf verspürte sie unerwartet das Bedürfnis, die Mahdoubt in Schutz zu nehmen, und zugleich sehnte sie sich danach, von ihr beschützt zu werden. Noch ehe Liand oder die ältere Frau sprechen konnten, fragte Linden: »Du bist hier Dienerin? Wieso tust du dir das an? Lass die Meister sich selbst bedienen. Warum sollte es deine Aufgabe sein, ihnen das Leben zu erleichtern?«
Liand nickte zustimmend, aber Lindens Frage konnte die Mahdoubt nicht aus der Fassung bringen. Tatsächlich schien die Dienerin über solche Bedenken erhaben zu sein. »Psst, Lady«, erwiderte sie. »Edle Gefühle, sicherlich. Die Mahdoubt sieht, dass dein Herz großmütig ist. Gelegentlich führt es dich jedoch in die Irre. Dienen ist keine Schande. Die Mahdoubt muss sich hier plagen, sicherlich, und ihre Arbeit ist oft mühsam. Aber die eigenen Anstrengungen nähren und kleiden und wärmen sie. Des Nachts schläft sie sorglos in einem sicheren Bett, ohne ein unfreundliches Wort gehört zu haben. Lady, die Mahdoubt ist zu alt, um noch Spaß daran zu haben, Kühe und Schafe zu hüten. Die endlose Plackerei im Stall und auf dem Feld ist nichts mehr für ihre alten Knochen. Sie und andere – psst, Lady, es gibt viele andere – sind dankbar, ihre Tage im Dienst von Schwelgenstein beschließen zu dürfen. Wie sollten wir sonst für uns sorgen?«
Das orangerote Auge der Frau schien kurz aufzuglühen. »Liegt hier irgendein Missverständnis vor?«, fragte sie sich selbst. »Sicherlich. Lady, die Mahdoubt ›bedient‹ die Meister nicht. Sie sind, wie sie sind, und bedürfen keiner Fürsorge. Die Mühe der Mahdoubt dient der großen Feste und allen darin Lebenden, denen die Unabhängigkeit der Meister fehlt.«
Durch diese Antwort der Mahdoubt beruhigt, merkte Linden, dass sie endlich lächelte. »Entschuldige.« Sie konnte sich kaum entsinnen, wann sie zuletzt gelächelt hatte. »Ich sollte keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen. Ich bin nur frustriert wegen all dieser Reinheit und Kompromisslosigkeit der Haruchai. Nach einiger Zeit kann ich einfach nicht anders, als das Schlimmste anzunehmen.«
Liand nickte erneut.
»Sicherlich, Lady«, murmelte die Dienerin. »Sicherlich. Reden wir nicht mehr davon. Ist die Mahdoubt beleidigt? Das ist sie nicht. Tatsächlich sind die Zeiten, in denen etwas sie kränken konnte, lange vorbei.«
Im selben Tonfall fuhr sie fort: »Gefällt dir das Wunder meiner Robe?« Sie zeigte auf ihr geschmacklos buntscheckiges Gewand. »Erfreut es dich, sie zu betrachten? Ja, das ist sicherlich so. Wie könnte es auch anders sein? Jeder Flecken und Flicken ist der Mahdoubt in Dankbarkeit geschenkt und mit Liebe zusammengenäht worden.«
Linden lächelte wieder. »Ein außergewöhnliches Stück.« Sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. Jedenfalls hatte sie nicht den Wunsch, der alten Frau den Stolz auf ihr Gewand zu nehmen.
Liand räusperte sich. »Dass es mit Liebe
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