Die Runenmeisterin
zögerte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht beides, obwohl ich dachte, ich wäre zur Liebe nicht fähig. Aber du bist etwas Besonderes, Rosalie, zumindest für mich. Verstehst du das?«
Sie nickte. Ja, sie gehörten zusammen, weil sie beide ein ähnliches Schicksal hatten. Aber was er nicht wußte, war, daß Sigrun schon alles vorbereitet hatte, um ihn wie die Fliege in ein Spinnennetz zu locken. Rosalie packte plötzlich die Angst, daß seine Liebe in diesem klebrigen, widerlichen Gespinst klebenbleiben und ersticken würde. Und sie merkte, daß die Situation für ihn immer unerträglicher wurde. Er sprang aus dem Bett und stand ruhelos am Fenster. Sie wußte, er konnte nicht einmal zu den anderen gehen und sie nach dem, was vorhin geschehen war, alleinlassen.
»Noch ein paar Stunden, dann geht die Sonne auf«, hörte sie ihn murmeln und wickelte sich wieder in die Pferdedecke. Sie schlief endlich ein, und als sie aufwachte, stand er noch immer da am Fenster, diesmal mit einem Krug Wein in der Hand.
»Du hast gar nicht geschlafen«, sagte sie und richtete sich auf.
Er schüttelte den Kopf. Setzte den Krug auf die Erde und legte sich wieder neben sie. Unten knarrten Türen, Pferdehufe klapperten auf dem Steinpflaster. Es herrschte ein düsteres Zwielicht im Raum, eine trübe, graue Dämmerung. Cai lehnte den Kopf an ihre Schulter.
»Ich muß zurück«, sagte Rosalie, »sie werden nach mir suchen.«
Er hob den Kopf und küßte sie. Warme Lippen, die sich öffneten …
Er hatte getrunken. Vielleicht zwei Stunden nur da am Fenster gestanden und getrunken. Er stand auf und streifte sich Wams und Hose ab, verriegelte die Tür. Kam wieder zu ihr und streifte ihr das Kleid über den Kopf. Das Licht warf dunkle Schatten auf seinen Leib, und im Zimmer wurde es immer heller. Er hatte seine Skrupel scheinbar im Wein ertränkt und schälte sie aus ihren Kleidern wie eine Zwiebel. Sie hatte den Schutz der Dunkelheit verloren.
Und dann sah er es.
H AGALAZ .
Er zuckte zurück und starrte auf die eintätowierte Rune zwischen ihren Brüsten.
Sie sah ihm an, wie die Erinnerung wiederkehrte an diese Nacht, in der er, von den Dämpfen der Pilze berauscht, bei ihr gelegen hatte. Er hatte ihr Gesicht nicht gesehen, hatte mit einer Namenlosen und Verschleierten geschlafen und war nicht Herr seiner Sinne gewesen, ebensowenig wie Rosalie selbst. Das war Sigruns Werk gewesen, das Werk einer Zauberin, die ihre Tochter einem Mann überantworten wollte, den sie gerne als Ehemann ihrer Tochter gesehen hätte.
Der Zauber hatte gewirkt. Er, der nie so etwas wie Liebe empfunden hatte, war verliebt. Es war wie in diesen alten Legenden vom Zaubertrank, aber sie hatten nichts getrunken. Sie hatten sich nur dem Schicksal überlassen und Sigrun, die ein wenig nachgeholfen hatte. Fühlte er sich jetzt betrogen? Würde er Rosalie nun bis ans Ende seines Lebens hassen und verabscheuen? Sie sah ihm bang in die Augen. Doch es war nur völliges Erstaunen in ihnen zu lesen.
»DU bist das gewesen?« fragte er ungläubig.
»Es ist ein uraltes Ritual«, sagte sie ruhig und versuchte, ihre Furcht zu beherrschen.
»Deine Mutter suchte einen Mann für dich«, murmelte er.
»Meine Mutter hatte schreckliche Angst um mich. Meine Schwester war im Kloster gut aufgehoben, aber ich, ich sollte die Nachfolgerin meiner Mutter werden. Einerseits war ich für die Büttel eine leichte Beute, wenn ich den Leuten die Runen legen würde. Andererseits ist aber niemand zu mir gekommen, denn die Leute haben Angst, bei einer Hexe gesehen zu werden. Meine Mutter wußte das. Sie lehrte mich, die Runen zu legen, aber gleichzeitig wußte sie, daß es keine Zukunft für die Runen gibt – also suchte sie nach einem Mann, dem sie das Versprechen abnahm, für mich zu sorgen. Und nach einem, der mich heiraten würde, und in dir sah sie beides in einer Person. Es war nicht recht, und ich sage dir, du bist frei, du mußt dich nicht an mich gebunden fühlen.«
Draußen schlugen die Glocken zur Prim. Die Tür zum Stadthaus würde geöffnet sein. Sie konnte zurückgehen.
»Warte«, sagte er leise. »Glaubst du, ich würde nichts wissen von solchen Dingen? Deine Mutter und ich, wir sprachen die Sprache der Götter. Und wenn sie dein Leben in meine Hände legte, dann hat das nichts mit Zauberei zu tun. Geh nicht, Rosalie, bleib bei mir.«
Sie kam wieder zu ihm. Er sprach in seiner fremden Sprache zu ihr, und sie lagen zusammen, bis es heller Tag wurde,
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