Die Runenmeisterin
müssen. Du kannst gehen, Soldat.«
Der Ire verließ grußlos die Kammer.
»Wir werden heute nachmittag diesen Freibauern aufsuchen«, sagte Martin und rollte seine Papiere zusammen. Er sah zum Fenster hinaus. »Die Sonne scheint. Ich möchte ein wenig Spazierengehen.«
Der Freibauer Genno besaß einen Hof, den auch schon sein Vater bewirtschaftet hatte. Der war noch ein Unfreier gewesen, seine Mutter die Konkubine eines hohen Herren. Genno war ein Bastard und nicht gut auf die Herren zu sprechen. Als er sie kommen sah, schickte er Frau und Kinder in den Wald.
»Versteckt euch dort, bis sie weg sind«, flüsterte er und nahm ein scharfes Messer vom Holzblock, ließ es aber wieder fallen, als er sah, daß Berthold unter den Ankömmlingen war.
Sie kamen zu viert, Berthold, Martin, Van Neil und der Ire. Genno hatte zwei Kühe, die standen vor dem Hofgebäude mit einem langen Strick an einen Baum gebunden. Hühner scharrten im feuchten Sand und stoben auseinander, als sie kamen.
Sie kamen ohne Gruß und blieben auf ihren Pferden sitzen. Martin blickte sich um, taxierte das Anwesen mit einem geübten Blick und fragte: »Warum schickst du Frau und Kinder in den Wald? Hör zu, Bauer, du hast nichts zu befürchten, wenn du die Wahrheit sagst. Dieser Junge, der Sohn der Kräuterfrau Anna, war bei dir am Morgen drei Tage vor dem Osterfest?«
Genno zitterte am ganzen Leib. Es gab keine Rechte für Männer wie ihn, auch wenn er den Status eines freien Bauern hatte. Sein Besitz waren zwei Kühe, ein Haus und ein wenig Land, auf dem Dinkel und Emmer wuchsen, oder auch nicht, wenn das Wetter schlecht war oder Krieg die Felder verwüstete.
»Der Junge war bei mir«, sagte er, »wir haben das Dach ausgebessert. Er kam bei Sonnenaufgang und ging gegen Mittag.«
»Wie ist das möglich?« schnurrte Martin mit sanfter Stimme. »Er hat gestanden, den Mord an diesem Offizier begangen zu haben. Ist er ein Geist, daß er an zwei Orten gleichzeitig sein kann? Oder lügt er?« Martins Stimme wurde immer leiser. »Oder lügst du?«
»Nein, Herr«, rief Genno, »ich lüge nicht. Der Junge gestand, weil man ihn geschlagen hat.«
»Woher weißt du das?«
»Die, die in der Burg arbeiten und abends nach Hause gehen, die haben es erzählt.«
Martin nickte. »Dann zweifelst du also die Methoden des herzoglichen Vollstreckers an?«
Genno wurde bleich. »Nein, aber …«
»Was, aber?«
»Warum sollte ich für den Jungen lügen?« rief der Bauer jetzt in heller Panik, denn er merkte, daß er sich in Martins spitzfindiger Argumentation wie in einem Gespinst verirrt hatte.
»Ja«, grinste Martin, »das möchten wir auch gerne wissen.« Er gab dem Iren ein Zeichen. Van Neil stieg vom Pferd und nahm ein Seil, das er dem Bauern um die Arme schlang, während der Ire zum Haus hinüberging. Berthold schloß die Augen. Er war müde, unendlich müde. Er hätte ein ganzes Leben lang schlafen mögen, die Augen verschließen vor dieser Welt, die ihn abstieß und anwiderte. Er verstand Martins Vorgehensweise ebensowenig wie die von Custodis, aber er merkte, Martins Verhalten hatte Methode – er schien etwas Bestimmtes zu suchen, eine Aussage, eine Lösung, irgend etwas, aber Berthold wußte nicht, was. Und dieser Vollstrecker würde dieses Etwas genauso mit Gewalt erzwingen wie Custodis.
Als Berthold die Augen wieder öffnete, hatte der Ire die brennende Fackel schon in der Hand. Er schleuderte sie hoch, daß sie den herunterhängenden Rand des Daches streifte. Das Stroh loderte auf. Die gellenden Schreie des Bauern schmerzten in Bertholds Ohren.
»Also?« rief Martin und trieb sein Pferd zurück. Rauch stieg auf, erste Strohbüschel fielen zur Erde.
Die Wahrheit, dachte Berthold bitter, da brannte sie, Büschel für Büschel, qualmte in der Luft, wurde allmählich zu Asche.
Der Ire warf noch eine Fackel hinauf. Er wich vor dem Feuer zurück, und sein Blick fiel auf die beiden angepflockten Kühe, die in ihrer Angst an den Seilen zerrten. Er zog sein Messer aus dem Gürtel und hackte das Seil entzwei. Panisch rannten die Tiere aufs freie Feld.
»Die Wahrheit, Bauer«, brüllte Martin, doch Genno starrte mit schreckensweiten Augen auf sein brennendes Haus.
»Kann man so die Wahrheit finden?« fragte Berthold, aber niemand hörte ihn in dem Krachen und Zischen dieses flammenden Infernos.
»Ich schicke den Soldaten in den Wald, deine Frau und deine Kinder holen«, schrie Martin und nickte dem Iren zu, der auf sein Pferd sprang.
»Nein!« rief
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