Die Runenmeisterin
Baum, und spann mit Worten einen Zauber um die Grenzen dieses Bezirks, der das Prinzip des Weltenbaumes symbolisierte.
Bald wurde der Garten bevölkert von allerlei Tieren, und Rosalie war nicht mehr allein, selbst wenn kein Mensch in der Nähe war.
Sie spürte, sie hatte ihre Kraft noch nicht verloren, und auch Vater Clemens schien dies zu merken. Er war jetzt wie Wachs in ihren Händen und schloß, freilich ohne es zu wissen, einen Frieden mit ihr, dessen Bedingungen Rosalie diktierte. Sie stellte keine Fragen mehr, sondern gab sich demütig und ergeben. Aber sie hörte seine Worte kaum noch, denn ihr eigener Zauber hatte sie wieder gesund werden lassen, so wie jemand stark und gesund gegen eine Krankheit wird, die er einmal überlebt hat. Sie hatte ein Heiligtum aus einem Stück Brachland gemacht, in dem andere nur einen Flecken voller blassem Unkraut sehen würden. Und auf ihre Art war sie glücklich, denn sie brauchte nicht viel zum Glücklichsein.
Sie war siebzehn Jahre alt, und sie liebte Cai Tuam.
Der Winter war übers Land hereingebrochen. So kalt und eisig wie schon seit Hunderten von Jahren nicht mehr. Schneestürme zogen von der Küste aufs Festland hinüber. Auf dem Meer wurden die Schiffe der Fischer zwischen gewaltigen Eismassen zerdrückt, zusammengefaltet, als wären sie aus Papier.
Die Heide lag unter Schnee begraben. Das Vieh verhungerte, die Menschen erfroren. In Lüneburg und Braunschweig waren die Klöppel der Kirchenglocken eingefroren und konnten die Gläubigen nicht mehr zur Messe rufen. Den Priestern in den Beichtstühlen froren Finger und Zehen ab.
Wer kein Dach über dem Kopf hatte, suchte Zuflucht bei den Lehnsherren. Doch gab es dort bald nicht mehr genügend zu essen für all diese Menschen. Jeden Tag starben Bettler und Hausarme, Kranke und Kinder, doch niemand konnte sie begraben, weil der Boden bis zu zwei Meter tief gefroren war. So ließ man sie auf dem Gottesacker liegen, und der Frost konservierte ihre steif gewordenen Hüllen.
In Raupach lebten nun fast doppelt so viele Menschen wie im Sommer. Sie drängten sich wie Vieh dicht in der Halle zusammen, und das Feuer reichte nicht aus, um sie alle zu wärmen. Den ganzen Tag schrien die Kinder, kläfften die Hunde, nur die Alten und Kranken lagen teilnahmslos auf ihren Strohlagern, weil es nicht genug Decken für alle gab.
Wieder war Schnee gefallen. Er lag meterhoch im Innenhof, und es fiel noch mehr. Kam er von Norden, war er weich und schmolz rasch, kam er von Osten, blieb er liegen und brachte Stürme mit sich.
Die Vorratsräume waren so gut wie leer. Was blieb, war ein wenig Brot und Wasser. Kein Fleisch, kein Gemüse, kein Obst.
Vor drei Wochen waren die ersten gekommen, hungrig und halb erfroren. Jetzt stank die Halle nach Krankheit und Tod. Auch ein Musiker mit seiner Laute war da. Er hatte ein Bein verloren, das war ihm erfroren, als er im Schnee vor Erschöpfung eingeschlafen war. Maria teilte Wasser aus. Wasser hatten sie genug. In kleinen Brocken wurde das Brot verteilt. Es hieß, der Kaiser habe Getreide geschickt, doch bis hierher kam niemand durch.
Raupach öffnete die Tür nach draußen. Still fiel der Schnee vom bleichen Himmel. Jeden Tag das gleiche Bild. In den Ställen stand schon lange kein Kuh mehr, kein Schaf, kein Ochse. Nicht einmal Hühner hatten sie mehr.
Raupach fühlte sich verzehrt und verbraucht. Seine Frau war schon im Spätsommer am Schweißfieber gestorben, und auch er spürte, wie seine Kräfte schwanden. Es reichte nicht mehr für all diese Menschen, die ihn brauchten.
Der Ire und Rosalie, die genug von der Heilkraft der Pflanzen verstand, um ihm zu helfen, waren unermüdlich. Die Kräutervorräte gingen zu Ende, und für beide gab es nur noch Fieber, Husten, Lungenschmerzen, erfrorene Glieder, denen sie nicht helfen konnten. Die Menschen waren zu Krankheiten geworden. Cais Gesicht war zu einer Maske erstarrt, hart und undurchdringlich. Er schlief nie mehr als drei Stunden in der Nacht, und das schon seit Wochen. Er schnauzte Soldaten und Gesinde an, scheuchte seinen kranken Herren ins Bett und murmelte wieder seine fremden gälischen Gebete. Sie mischten ihre Medizin und versorgten die Alten und Kranken, die Kinder und die Sterbenden.
Dann wurde Maria krank. Lungenfieber, sagte der Ire. Er stand an ihrem Bett und flößte ihr Weidenrindentee ein. Hielt ihre heiße trockene Hand. Maria erkannte ihn nicht mehr.
»Ihr müßt schlafen«, sagte Rosalie zu ihm.
»Wie soll ich schlafen«,
Weitere Kostenlose Bücher