Die Runenmeisterin
berauscht und bewacht von Schlangen und weißen, heiligen Pferden und Ebern und Raben. Wenn er Zorn empfand oder Verbitterung, dann ließ er es sie nicht spüren, aber auch in dieser Nacht war es allgegenwärtig, dieses Erlebnis aus dem Wald. Es spukte in ihren Köpfen herum, als hinge der Rauch der Pilze über ihrem Bett. Als wäre Sigruns Anwesenheit greifbar. Er bewegte sich kaum, hielt sich zurück und folgte einem uralten Ritus, der die Säfte des Leibes kontrollierte. Er beherrschte sich, und er beherrschte die Frau, und die Zeit rann dahin, und Rosalie wußte, sie würde unfruchtbar bleiben.
Das, was er ihr gab, war von anderer Art. Es war nicht die von einer Droge ausgelöste Raserei wie im Wald, es war ein sanftes Eintauchen und Verharren, das die Sinne klar machte, als sähe man in einen Spiegel. Als er sich zurückzog, schien die Luft im Raum so aufgeladen, daß Rosalies Haare zu knistern begannen, als hätte man sie ins Feuer geworfen. Sie standen auf und kleideten sich an. Plötzlich schlug jemand gegen die Tür.
»Bei Taranis«, murmelte Cai, »es muß fast Mittag sein.«
Er brachte Rosalie zurück zum Stadthaus und küßte sie zum Abschied wortlos auf die Wange. Vom Dom schlugen drohend und dumpf die Glocken, und ihr war plötzlich sterbenselend.
Das Frühjahr hatte Raupach einen neuen herzoglichen Vollstrecker beschert, der, wie er belustigt zum besten gab, eigentlich ein Weihnachtsgeschenk hätte sein sollen, wenn nicht die Straßen so zugeschneit gewesen wären. Raupach hatte wenig Sinn für ein solches Geschenk, aber wenigstens war dieser Hektor Martin ein offensichtlich gebildeter, kultivierter Mensch mit guten Manieren, und er beherrschte die lateinische Sprache.
Er war schlank und groß und besaß die hageren, strengen Gesichtszüge eines Asketen, eine Adlernase, scharfe Augen, schmale, feine Hände. Er war höflich, fragte, bevor er sich irgendwohin begab, stellte seine Fragen leise und bewegte sich wie ein Geist, den man weder hört noch sieht. Meist tauchte er unvermittelt auf, entschuldigte sich für sein Erscheinen, nahm seine Umgebung in Augenschein und gab sich alle Mühe, umgänglich zu sein. Selbst die Mägde in der Wäschekammer hatten kein böses Wort für ihn, während sie sich über Custodis stets die Mäuler zerrissen hatten.
Martin ließ Custodis’ Schicksal im dunkeln und wehrte ab, wenn die Rede auf seinen Vorgänger kam, aber er hatte die Aufzeichnungen des Schreibers Petronius dabei, die er sorgfältig studierte. Dann ließ er sich den Hergang dieses besagten Morgens noch einmal schildern, besuchte den Tatort und zog sich dann endlich in seine kleine Kammer zurück, um nachzudenken.
Am zweiten Tag seines Aufenthaltes erschien er in Raupachs Kammer, legte die Schriftrolle von Petronius auf den Tisch und stützte den Kopf auf die feingliedrigen, gefalteten Hände. »Wir werden noch einmal von vorn beginnen müssen«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Als erstes werden wir diesen Zeugen, diesen Freibauern, aufsuchen und seine Aussage überprüfen. Außerdem will ich den Soldaten sprechen, der den Verdächtigen verhört hat. Holt ihn her.«
Raupach schickte nach dem Iren. Währenddessen blätterte Martin in seinen Unterlagen und hob den Kopf erst wieder, als der Ire eintrat. Der kam vom Turnierplatz, und sein Rock war schlammbespritzt. Offenbar war er in einen Graben gefallen. Seine Haare glänzten naß, und sein grüner Umhang tropfte. Martin warf einen kurzen, angewiderten Blick auf die schmutzige Erscheinung. »Euer Name?«
»Cainnech Tuam.«
»Nun, Cainnech Tuam, du hast ein Verhör durchgeführt, nach dem der Beklagte angeblich geständig gewesen war. Ist dem so?«
Unter des Iren Stiefeln bildeten sich schmutzige Lachen auf den vornehmen schwarz-weißen Steinfliesen. Martins Blick verfing sich wieder an der Gestalt des Soldaten. Er legte großen Wert auf eine gepflegte Erscheinung, und so verzog er kaum merklich das Gesicht.
Der Ire nickte.
»Gut. Was ist mit dem Angeklagten geschehen?«
Auf Cai Tuams Gesicht erschien der Hauch eines Lächelns, was Martin verblüfft zur Kenntnis nahm.
»Ich habe ihm das Nasenbein und beide Arme gebrochen. Danach war er geständig.«
»Du bist Soldat?«
»Ja, Herr.«
»Custodis hielt große Stücke auf dich. So viel Kaltschnäuzigkeit imponierte ihm. Mir übrigens nicht. Ich hasse rohe Gewalt, vor allem, wenn sie nicht angebracht ist. Und hier war sie nicht angebracht. Man hätte erst den Zeugen befragen
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