Die russische Gräfin
bauschenden Röcken stören ließ. Ihre Züge waren angespannt, ihre Augen auf Rathbone gerichtet. Sie lächelte, wirkte aber ganz und gar nicht fröhlich oder behaglich.
»Wir werden andere Freunde finden«, sagte sie mit leicht rauher Stimme. »Aber es werden wenige sein. Die Leute glauben das, was sie glauben müssen oder dem sie sich verpflichtet haben. Ich habe Feinde, aber die hat ja auch Gisela. Viele alte Rechnungen sind noch offen, alte Verletzungen, Liebesaffären und Haß. Und dann gibt es auch noch diejenigen, die sich ausschließlich für die zukünftige Politik interessieren, dafür, ob wir unabhängig bleiben oder von einem großdeutschen Reich geschluckt werden, und wer die Profite einstreicht. Sie werden sowohl Tapferkeit als auch Klugheit beweisen müssen, Sir Oliver.«
Ihre markanten Züge wurden wieder weicher, und auf einmal waren sie wunderschön, denn das Leuchten kehrte zurück.
»Aber wenn ich Ihnen nicht beides zutrauen würde, hätte ich mich auch nicht an Sie gewandt. Wir werden ihnen einen großen Kampf liefern, nicht war? Niemand soll einen Mann – und Prinzen – ermorden dürfen, und wir werden nicht danebenstehen und zulassen, daß die Welt es für einen Unfall hält. Gott, wie ich die Heuchler hasse! Wir wollen Aufrichtigkeit! Sie ist es wert , daß man dafür lebt – und stirbt!«
»Unbedingt!« sagte Rathbone im Brustton der Überzeugung. Am Abend fuhr Rathbone im langen Zwielicht des Sommers nach Primrose Hill im Norden von London, wo sein Vater lebte.
Es war ein weiter Weg, aber er hatte es nicht eilig. Für die Fahrt benutzte er einen offenen Zweiradwagen, der sich am leichtesten zwischen all den Landauern und Vierspännern bewegen ließ. Und es herrschte ein Gedränge auf den Straßen und Alleen, weil viele eine Spazierfahrt im vom Sonnenlicht gesprenkelten Halbschatten der Bäume unternahmen, und außerdem die in London Berufstätigen nach einem langen Arbeitstag in der Hitze der Stadt auf dem Heimweg waren. Rathbone fuhr selten aus – dafür fehlte ihm meistens die Zeit –, aber wenn er es tat, genoß er es.
Henry Rathbone war nach einem langen Arbeitsleben als Forscher und Mathematiker in den Ruhestand gegangen. Zwar betrachtete er mit seinem Teleskop noch gelegentlich die Sterne, aber nur, um sich daran zu erfreuen. An diesem Abend stand er bei Olivers Ankunft im Garten auf dem langen Rasen mit Blick auf die Heckenkirschen und den dahinter liegenden Obstgarten mit seinen Apfelbäumen und überlegte, ob das Obst dieses Jahr trotz des zu trockenen Sommers eine akzeptable Qualität erreichen würde. Der alte Rathbone war ein hochgewachsener Mann, größer als sein Sohn, breitschultrig und schlank. Er hatte ein mildes Gesicht mit Adlernase und weitsichtigen blauen Augen. Wenn er etwas aus der Nähe betrachten wollte, mußte er seine Brille aufsetzen.
»Guten Abend, Vater.« Rathbone kam über den Rasen. Der Butler hatte ihn ins Haus gelassen und über die Terrasse zum Garten geführt.
Henry drehte sich überrascht um. »Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet. Leider kann ich dich nur mit Brot und Käse bewirten. Aber ich habe auch eine ziemlich gute Pastete und einen vorzüglichen Rotwein, wenn dir danach ist.«
»Danke, gern.«
»Bißchen zu trocken für das Obst«, meinte Henry und wandte sich wieder den Bäumen zu. »Aber ich müßte noch ein paar Erdbeeren haben.«
»Danke, Vater«, wiederholte Oliver. Da er nun hier war, wußte er auf einmal nicht mehr, wie er anfangen sollte. »Ich habe einen Verleumdungsfall übernommen.«
»Oh. Ist dein Mandant Kläger oder Beklagter?« Henry drehte sich wieder um und schlenderte langsam zum Haus. Die noch immer über dem Horizont stehende Sonne warf lange Schatten auf das golden schimmernde Gras und brachte den Rittersporn zum Leuchten.
»Beklagter«, antwortete Oliver.
»Wen hat er verleumdet?«
»Es geht um eine Sie«, erklärte Oliver. »Prinzessin Gisela von Felzburg.«
Henry blieb abrupt stehen. »Du übernimmst doch nicht etwa die Verteidigung der Gräfin Zorah?«
Oliver hielt ebenfalls inne. »Doch. Sie ist davon überzeugt, daß Gisela Friedrich getötet hat und sich das auch beweisen läßt.« Im selben Atemzug bemerkte er, daß er übertrieben hatte. Bislang konnte nur von Glaube und Entschlossenheit die Rede sein. Es bestanden weiterhin Zweifel.
Henry legte besorgt die Stirn in Falten. »Hoffentlich hast du es dir reiflich überlegt, Oliver. Nun, vielleicht möchtest du mir mehr darüber erzählen,
Weitere Kostenlose Bücher